Stille Sehnsucht
werden, kann ich noch nicht sagen. Das wird die Rehabilitation klären.“
„Was heißt das? Etwa Rollstuhl?“, fragte Tristan mit einer Stimme, die Niko eine Gänsehaut bescherte, doch Noahs Arzt schüttelte erneut den Kopf, und Niko seufzte erleichtert. Gott sei Dank.
„Nein, er spürt seine Beine, aber er muss jetzt lernen, wieder zu laufen. Durch das Koma sind Noahs Muskeln zurückgebildet, aber dagegen wird die Reha helfen. Wir verlegen ihn in eine entsprechende Einrichtung, sobald er fit genug ist. Ich meinte eigentlich Spätfolgen, die bei solchen Verletzungen manchmal erst Monate oder Jahre später auftreten.“ Der Arzt rieb sich die Augen. „Deshalb ist es wichtig, dass Ihr Sohn die nächste Zeit überwacht wird. Auch das können wir in der Reha sicherstellen.“
„Was ist mit Noahs Gedächtnis?“, wollte David wissen und lehnte sich auf seinem Stuhl etwas vor. „Sie sagten, es 'könnte' dauerhaft sein. Könnte, nicht ist. Wie hoch ist die Chance, dass er sich wieder erinnert?“
Noahs Arzt ließ sich sehr lange Zeit für eine Antwort, was Niko als schlechtes Zeichen wertete. Und nicht nur er, wie ein kurzer Rundblick im Büro des Arztes bewies, wo sie alle versammelt waren.
„Ich bin Arzt für Traumapatienten, aber selbst mir ist klar, dass Wunder möglich sind. Deshalb sagte ich zuvor 'könnte', weil ich von einigen Fällen weiß, in denen sich Patienten plötzlich an ihr vorheriges Leben erinnerten, obwohl Ärzte das für unmöglich hielten.“ Der Mann warf einen kurzen Blick auf die Akte und schaute dann Noahs Väter an. „Noahs Erinnerung ist nicht mehr vorhanden, das heißt, er weiß nichts mehr. Weder über sein Leben, seine Vergangenheit, oder Sie. Er kennt nicht mal seinen Namen. Für ihn sind Sie alle Fremde. Er wird sich selbst fremd sein, sobald er versteht, was mit ihm passiert ist.“
„Können wir ihm helfen?“, fragte Tristan und hob den Kopf. „Können wir irgendetwas tun?“
Noahs Arzt nickte und stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Schreibtisch. „Sie sind seine Familie, das habe ich ihm bereits gesagt, und so lange er sich nicht dagegen wehrt, erzählen Sie ihm ruhig, wer er ist. Zeigen Sie ihm Bilder, Filme, was Sie auftreiben können, und behandeln Sie ihn ganz normal. Ich werde für Noah und auch für Sie eine psychologische Behandlung empfehlen, denn Sie werden sie brauchen. Und bitte erwarten Sie nichts von ihm. Es ist möglich, dass Noah Sie früher oder später als Bezugspersonen ablehnt. Dass er Ihre Hilfe nicht länger will und Ihre Nähe verweigert.“
„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein“, murmelte Colin entsetzt, doch der mitfühlende Blick des Arztes verriet Niko, dass es dem Mann sehr wohl ernst war.
„Es tut mir leid, Mister McDermott, aber das ist mein voller Ernst“, sagte Noahs Arzt und wandte sich wieder an dessen Väter. „Sie müssen Ihrem Sohn den Freiraum geben, den er verlangt, auch wenn es Ihnen schwerfällt. Noah ist Ihr Sohn. Sie wissen das, ich weiß das und Ihre Familie weiß es. Aber Noah hat es vergessen, und wenn ich nach den Ergebnissen meiner Untersuchungen gehe, wird er sich nie wieder daran erinnern.“
Tristan vergrub das Gesicht in den Händen und sank noch ein Stück tiefer in seinen Stuhl. Niko verzog gequält das Gesicht. Er wollte etwas tun, Tristan beistehen, aber er wusste einfach nicht wie.
„Was werden Sie als Nächstes mit Noah tun?“, wollte Adrian wissen.
„Wir müssen jetzt herausfinden, inwieweit Noah sich an das alltägliche Leben erinnert. Ob er rechnen, lesen oder schreiben kann. Wie gesagt, sobald er körperlich so weit ist, werde ich ihn in eine Rehabilitation einweisen lassen, um ihn langsam wieder an einen normalen Alltag heranzuführen. Unterstützten Sie Noah dabei, so gut sie können und sofern Noah es zulässt. Es ist wichtig, dass... Mister Kendall...“
Tristan stürmte schweigend aus dem Raum und Niko zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm zuknallte.
„Dad, warte!“
Liam rannte Tristan nach, gefolgt von Nick, Adrian und David, und das war wie eine Art Startschuss, denn plötzlich fand sich Niko allein mit Kilian, Dale und Tyler im Büro des Arztes wieder. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sein Bulle mittlerweile hier war.
„Passiert das immer?“, fragte Dale und lenkte ihn von Tyler ab.
Noahs Arzt nickte seufzend. „Diese Reaktion ist völlig normal. Wenn sich der erste Schock legt und die Familie anfängt zu begreifen, was sie erwartet, ist Flucht häufig die erste
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