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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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die sich noch immer im Café Wepler herumtrieb. Wir waren gute Freunde geworden. Geld spielte keine Rolle mehr. Wohl brachte ich ihr kleine Geschenke, aber das stand irgendwie auf einem anderen Blatt. Hin und wieder überredete ich sie, sich den Nachmittag freizumachen. Dann setzten wir uns irgendwo an die Seine oder fuhren mit dem Zug hinaus in irgendeinen Wald, wo wir uns ins Gras legten und nach Herzenslust fickten. Ich fragte sie nie nach ihrer Vergangenheit. Wir sprachen immer nur über die Zukunft. Sie jedenfalls. Wie so viele Französinnen träumte sie von einem Häuschen auf dem Lande, womöglich irgendwo im Midi. Für Paris hatte sie nicht viel übrig. Es sei ungesund, pflegte sie zu sagen.
    «Und womit würdest du dir die Zeit vertreiben?» fragte ich einmal.
    «Womit?» wiederholte sie erstaunt. «Ich würde gar nichts tun, einfach nur leben.»
    Was für ein Gedanke! Was für ein vernünftiger Gedanke! Ich beneidete sie um ihr Phlegma, ihre Indolenz, ihre Sorglosigkeit. Ich drängte sie, ausführlich darüber - über das Nichtstun, meine ich - zu reden. Es war eine Lebensform, mit der ich nie geliebäugelt hatte. Dazu mußte man entweder völlig geistlos oder aber bemerkenswert geistvoll sein. Geistlos wäre wohl vorzuziehen, dachte ich mir.
    Allein Nys beim Essen zuzuschauen war ein Vergnügen. Sie genoß jeden Bissen ihrer Mahlzeit, die sie sehr überlegt zusammenstellte. Dabei spreche ich nicht von Kalorien und Vitaminen. Nein, sie suchte sich mit Bedacht die Dinge aus, die sie mochte und die ihr gut bekamen, einfach weil sie sie genoß. Sie konnte eine Mahlzeit endlos hinziehen, ihre Laune wurde immer besser, ihre Indolenz immer verführerischer und ihr Geist immer kühner, lebhafter und wacher. Ein gutes Essen, ein gutes Gespräch, ein guter Fick - wie konnte man denn einen Tag besser verbringen? Sie kannte keine Gewissensbisse, es gab keine Sorgen, die sie nicht leicht abwarf. Sie ließ sich einfach von der Strömung treiben. Sie brachte keine Kinder zur Welt, trug nichts zum Wohlergehen der Allgemeinheit bei, ließ in der Welt keine Spur hinter sich zurück. Aber wohin sie auch kam, wurde das Leben leichter, reizvoller, beschwingter. Und das ist nichts Geringes. Jedesmal, wenn ich mich von ihr trennte, hatte ich das Gefühl, einen schönen Tag verbracht zu haben. Ich wünschte mir, auch ich könnte das Dasein auf die gleiche leichte, natürliche Weise hinnehmen. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre eine Frau wie sie und besäße weiter nichts als eine anziehende Möse. Wie wundervoll, seine Möse zur Arbeit und seinen Verstand zum Vergnügen zu verwenden! Sich ins Glück zu verlieben! So unnütz wie möglich zu werden! Ein Gewissen, so robust wie eine Krokodilshaut zu entwickeln! Und wenn man alt und nicht mehr anziehend war, notfalls für einen Fick zu bezahlen. Oder einen Hund zu kaufen und ihn darauf abzurichten. Nackt und allein zu sterben, wenn die Zeit kam — ohne Schuld, ohne Klage, ohne Reue...
    Davon träumte ich, wenn ich einen Tag mit Nys im Freien verbracht hatte.
    Was für ein Vergnügen wäre es doch, einen fetten Batzen zu stehlen und ihn ihr beim Abschied zu überreichen. Oder sie ein Stück zu begleiten, sagen wir bis nach Orange oder Avignon. Einen oder zwei Monate wie ein Vagabund zu verpissen, sich in ihrer Indolenz zu sonnen. Ihr mit Händen und Füßen zu dienen, nur um sich an ihrer Freude zu freuen.
    An Abenden, an denen ich sie nicht sehen konnte - weil sie besetzt war -, wanderte ich allein umher, hielt mich in den kleinen Bars der Seitenstraßen auf oder in Kellerspelunken, wo andere Mädchen in törichter, sinnloser Weise ihrem Gewerbe nachgingen. Manchmal nahm ich aus purer Langeweile eine von ihnen mit, obwohl das einen faden Geschmack zurückließ.
    Häufig, wenn ich heimkam, war Colette noch wach und strich in dem lächerlichen japanischen Hänger herum, den Carl für sie in einem Basar aufgegabelt hatte. Irgendwie schienen wir nie das Geld aufbringen zu können, um ihr einen Pyjama zu kaufen. Gewöhnlich war sie gerade dabei, eine Kleinigkeit zu essen, wenn ich nach Hause kam. Das arme Ding versuchte sich damit wachzuhalten, um Carl zu begrüßen, wenn er von der Arbeit kam. Ich setzte mich zu ihr und aß auch einen Bissen. Unsere Unterhaltung war ziellos. Nie hatte sie etwas zu sagen, was des Zuhörens wert gewesen wäre. Sie hatte keine Sehnsüchte, keine Träume, keine Wünsche. Sie war so gutmütig wie eine Kuh, fügsam wie eine Sklavin, reizvoll wie eine

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