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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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auf, stützte die Füße auf den Bettrand und begann ein neues Gedicht zu verfassen. Als sie ein paar Zeilen geschrieben hatte, fragte sie nach ihrem Revolver.
    «Revolver?» schrie Carl und sprang aus dem Bett, wie ein aufgescheuchtes Kaninchen. «Was für einen Revolver?»
    «Der in meiner Handtasche», sagte sie ruhig. «Ich hätte jetzt Lust, jemanden zu erschießen. Ihr habt euch gut amüsiert für eure zweihundert Francs — nun bin ich dran.» Damit stürzte sie sich auf die Handtasche. Wir warfen uns auf sie und zwangen sie zu Boden. Sie biß und kratzte und trat mit aller Kraft um sich.
    «Sieh nach, ob sie eine Kanone in der Handtasche hat», sagte Carl und hielt sie am Boden fest. Ich sprang auf, ergriff die Tasche und sah, daß keine Waffe drin war. Gleichzeitig nahm ich die zwei Geldscheine heraus und versteckte sie unter dem Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch.
    «Gieß ihr Wasser über, aber schnell» , sagte Carl. «Ich glaube, sie bekommt einen Anfall.»
    Ich rannte zum Ausguß, füllte einen Krug voll Wasser und schüttete es über sie. Sie schnappte nach Luft, wand sich ein wenig wie ein Fisch auf dem Trockenen, setzte sich auf und sagte mit einem unheimlichen Lächeln: «Ç a y est, c'est bien assez ... laissez-moi sortir.»

     
    Na schön, dachte ich bei mir, endlich sind wir sie los. Zu Carl: «Paß gut auf sie auf, ich hol ihre Sachen. Wir müssen sie anziehen und in ein Taxi setzen.»
    Wir trockneten sie ab und zogen sie an, so gut wir konnten. Ich hatte das dunkle Gefühl, daß sie noch etwas anstellen würde, bevor wir sie aus dem Haus hatten. Und was wäre, wenn sie auf der Straße aus reiner Teufelei zu schreien anfing?
    Wir zogen uns schnell an, wobei wir sie mit Argusaugen beobachteten. Gerade als wir gehen wollten, fiel ihr das Stück Papier ein, das sie auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen - das unvollendete Gedicht. Als sie danach suchte, fiel ihr Blick auf die Banknoten unter dem Briefbeschwerer.
    «Mein Geld!» schrie sie.
    «Sei nicht albern», sagte ich ruhig und hielt sie am Arm fest. «Oder glaubst du etwa, daß wir dich bestehlen würden? Dein Geld ist in der Handtasche.»
    Sie warf mir einen raschen, durchdringenden Blick zu und schlug die Augen nieder. «Je vous demande pardon» , sagte sie. «Je suis tr è s nerveuse ce soir.»
    «Das kann man wohl sagen», meinte Carl und schob sie zur Tür. «Sehr clever von dir, Joey», sagte er auf englisch, als wir die Treppe hinuntergingen.
    «Wo wohnst du?» erkundigte sich Carl, als das Taxi hielt.
    «Nirgendwo», erwiderte sie. «Ich bin müde. Sag ihm, er soll mich an einem Hotel absetzen - an irgendeinem Hotel.»
    Carl schien gerührt. «Sollen wir mitkommen?» fragte er.
    «Nein», sagte sie. «Ich will schlafen.»
    «Mach schon», sagte ich und zog ihn fort. «Sie wird schon zurechtkommen.»
    Ich warf die Tür zu und winkte gute Nacht. Carl stand da und schaute verstört dem entschwindenden Taxi nach.
    «Was ist los mit dir? Machst du dir etwa Sorgen wegen ihr? Wenn sie verrückt ist, braucht sie kein Geld - und auch kein Hotel.»
    «Ich weiß, aber trotzdem... weißt du, Joey, du bist ein hartherziger Hund. Und das Geld! Lieber Gott, schließlich haben wir sie doch nach allen Regeln der Kunst gefickt.»
    «Ja», sagte ich, «ein Glück, daß ich wußte, wo du deinen Zaster aufbewahrst.»
    «Soll das heißen, daß das mein Geld war?» sagte er, als ginge ihm plötzlich ein Licht auf.
    «Ja, Joey, das ewig Weibliche zieht uns stets an. Eine großartige Dichtung, der Faust.»
    Er lehnte sich an die Wand und bog sich in hysterischem Gelächter. «Und ich glaubte, ich wäre hier der Schlaue», sagte er, «aber ich bin ja bloß ein Stümper. Paß auf, morgen hauen wir das Geld auf den Kopf. Wir gehen irgendwo gut essen. Ich lad dich zur Abwechslung mal in ein feudales Restaurant ein.»
    «Übrigens», sagte ich, «war eigentlich etwas dran an ihren Gedichten? Ich hatte keine Chance, sie zu lesen. Ich meine die Verse im Badezimmer.»
    «Eine Zeile war gut», sagte er. «Das übrige war lunatical.»
    «Lunatical? Dieses Wort gibt es überhaupt nicht im Englischen.»
    «Das war es aber. Verrückt - das wäre zu milde ausgedrückt. Man muß schon ein neues Wort dafür prägen. Lunatical . Mir gefällt dieses Wort. Ich werde es verwenden... Und jetzt werde ich dir etwas sagen, Joey. Du erinnerst dich an den Revolver?»
    «Welchen Revolver? Es war doch überhaupt kein Revolver da.»
    «Und ob einer da war», sagte er und lächelte

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