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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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jedoch klopfte es gegen Mittag unheilverkündend an der Tür. Ich tippte in meinem Zimmer. Carl öffnete die Tür. Ich hörte Colettes Stimme - und dann die Stimme eines Mannes. Dann hörte ich auch eine Frauenstimme. Ich tippte weiter. Ich schrieb einfach, was mir in den Kopf kam, nur um den Eindruck zu erwecken, ich sei beschäftigt.
    Plötzlich erschien Carl, er sah verstört und bestürzt aus. «Hat sie ihre Uhr hiergelassen?» fragte er. «Sie suchen die Uhr.»
    «Wer sie?» wollte ich wissen.
    «Ihre Mutter ist da... Wer der Mann ist, weiß ich nicht. Vielleicht ein Detektiv. Komm einen Augenblick herüber. Ich werde dich vorstellen.»
    Die Mutter war eine blendend aussehende Person in mittleren Jahren, sehr gepflegt, fast distinguiert. Der Mann, der schlicht und adrett gekleidet war, sah aus wie ein Rechtsanwalt. Alle sprachen leise — als sei soeben jemand gestorben.
    Ich spürte sofort, daß meine Gegenwart Eindruck machte.
    «Sind Sie auch Schriftsteller?» Es war der Mann, der sprach.
    Ich bejahte es höflich.
    «Schreiben Sie Französisch?» fragte er.
    Darauf gab ich eine sehr taktvolle, schmeichelhafte Antwort, indem ich beklagte, daß meine beschränkten Fähigkeiten, obwohl ich bereits seit fünf oder sechs Jahren in Frankreich lebte und mit der französischen Literatur vertraut sei, ja, sogar hin und wieder aus ihr übersetzte, nicht ausreichten, seine schöne Sprache wirklich zu beherrschen und mich so auszudrücken, wie ich wollte.
    Ich hatte mir alle Mühe gegeben, diese Lobhudelei beredt und überzeugend vorzutragen. Mir schien, daß es seine Wirkung nicht verfehlte.
    Die Mutter studierte inzwischen die Titel der Bücher, die sich auf Carls Schreibtisch stapelten. Impulsiv zog sie eines heraus und reichte es dem Mann. Es war der letzte Band von Prousts berühmtem Werk. Der Mann hob seinen Blick von dem Buch zu Carl auf, den er jetzt mit neuen Augen zu sehen schien. So etwas wie ein Ausdruck widerstrebenden Respekts erschien auf seinem Gesicht. Carl erklärte etwas verlegen, daß er zur Zeit an einem Essay arbeite, in dem er versuche, die Beziehungen zwischen Prousts Metaphysik und der okkulten Überlieferung, insbesondere der Doktrin von Hermes Trismegistos, von dem er fasziniert sei, aufzuzeigen.
    «Tiens, tiens» , sagte der Mann, zog vielsagend eine Augenbraue hoch und fixierte uns beide mit einem strengen, aber nicht völlig verdammenden Blick. «Würden Sie uns bitte einen Augenblick mit Ihrem Freund allein lassen?» sagte er, sich an mich wendend.
    «Aber gewiß doch», sagte ich und ging in mein Zimmer hinüber, wo ich wieder wie verrückt drauflos tippte.
    Sie blieben, wie mir schien, eine gute halbe Stunde in Carls Zimmer. Ich hatte, bis sie in mein Zimmer kamen, um sich zu verabschieden, an die acht oder zehn Seiten reinen Unsinn geschrieben, aus dem nicht einmal der wildeste Surrealist hätte klug werden können. Ich sagte Colette Lebewohl, als wäre sie eine kleine "Waise, die wir gerettet hatten und die wir nun unversehrt ihren lange verloren geglaubten Eltern zurückgaben. Ich erkundigte mich, ob sie die Uhr gefunden hatten. Sie hätten es nicht, hofften aber, daß wir sie noch finden würden. Sie sei ein kleines Andenken, erklärten sie.
    Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, kam Carl ins Zimmer gestürzt und umarmte mich. «Joey, ich glaube, du hast mir das Leben gerettet! Oder vielleicht war es Proust. Dieser Sauertopf war wahrhaftig beeindruckt. Litterature! So französisch, das Ganze. Sogar die Polizei hier hat was für Literatur übrig. Und daß du Amerikaner bist — ein berühmter Schriftsteller, wie ich behauptete -, hat unseren Kredit gewaltig gehoben.
    Weißt du, was er gesagt hat, als du hinausgegangen warst? Er sei Colettes gesetzlicher Vormund. Sie ist übrigens fünfzehn, aber sie ist schon früher einmal von zu Hause weggelaufen. Trotzdem, wenn er mich vor Gericht brächte, meinte er, würde ich zehn Jahre kriegen. Er fragte mich, ob mir das klar sei. Ich sagte ja. Vermutlich war er überrascht, daß ich keinen Versuch machte, mich zu verteidigen. Aber was ihn noch mehr überraschte, war die Tatsache, daß wir Schriftsteller sind. Die Franzosen haben große Achtung vor Schriftstellern, weißt du. Ein Schriftsteller ist nie ein gewöhnlicher Verbrecher. Er hatte erwartet, ein Paar Apachen vorzufinden, nehme ich an. Oder Erpresser. Als er dich sah, gab er klein bei. Er fragte mich nachher, was für Bücher du denn geschrieben hast und ob schon welche

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