Stille Tage in Clichy
übersetzt seien. Ich erklärte ihm, du seist ein Philosoph und ziemlich schwierig zu übersetzen...»
«Das war ein phantastischer Dreh, wie du ihn mit Hermes Trismegistos verblüfft hast», sagte ich. «Wie bist du nur darauf gekommen?»
Carl antwortete: «Ich war so verängstigt, daß ich einfach drauflos geredet habe ... Übrigens hat ihn noch etwas beeindruckt, und zwar der Faust - weil er in Deutsch war. Und sicherlich auch einige der englischen Bücher - Lawrence, Blake, Shakespeare. Ich hörte direkt, wie er sich sagte: «Diese Burschen können nicht ganz so übel sein. Das Kind hätte in schlimmere Hände fallen können»
«Aber was hat denn bloß die Mutter gesagt?»
«Die Mutter! Hast du sie dir genau angesehen? Sie war nicht nur schön, sie war einfach göttlich! Joey, im Augenblick, als ich sie sah, verliebte ich mich in sie. Sie sprach die ganze Zeit kaum ein Wort. Am Schluß sagte sie zu mir: ‹Monsieur, wir wollen nicht gegen Sie vorgehen, allerdings nur unter der Bedingung, daß Sie uns versprechen, keinen Versuch zu machen, Colette wiederzusehen. Haben wir uns verstanden?› Ich hörte kaum, was sie sagte, ich war so verwirrt. Ich errötete und stammelte wie ein Schuljunge. Wenn sie gesagt hätte: ‹Monsieur, kommen Sie bitte mit zur Polizei›, hätte ich gesagt: ‹Oui, madame, à vos ordres› . Ich war drauf und dran, ihr die Hand zu küssen, aber dann dachte ich, das ginge vielleicht zu weit. Hast du ihr Parfüm bemerkt? Das war...» Er ratterte einen Markennamen mit Nummer herunter, als müsse mich das beeindrucken. «Ach so, du verstehst ja nichts von Parfüms. Weißt du, nur Frauen aus den besten Kreisen benutzen solche Parfüms. Sie hätte eine Herzogin oder eine Marquise sein können. Zu schade, daß es nicht die Mutter war, die ich aufgelesen habe. Übrigens, das gibt einen guten Schluß für mein Buch, was meinst du?»
Einen hervorragenden Schluß, dachte ich bei mir. Tatsächlich schrieb er die Geschichte einige Monate später, und es war eine seiner besten Arbeiten, besonders die Stelle über Proust und den Faust . Die ganze Zeit, während er daran schrieb, schwärmte er von der Mutter. Colette schien er völlig vergessen zu haben.
Kaum war diese Episode vorüber, da kreuzten die englischen Girls auf, und dann kam das Mädchen aus der épicerie , die ganz verrückt darauf war, Englisch zu lernen, und danach Jeanne, und zwischendurch die Garderobiere, und hin und wieder eine Hure aus der Sackgasse hinter dem Café Wepler - aus der Falle, wie wir sie nannten, denn nachts auf dem Heimweg an diesem Gäßchen vorbeizugehen, war das reinste Spießrutenlaufen.
Und dann kam die Somnambule mit dem Revolver, die uns einige Tage lang in Atem hielt.
Eines Morgens in aller Frühe, nachdem wir die ganze Nacht algerischen Wein weggeputzt hatten, hatte Carl die Idee, daß wir ein paar Tage Ferien machen sollten. An meiner Wand hing eine große Landkarte von Europa, die wir fieberhaft studierten, um zu sehen, wie weit wir mit den bescheidenen Mitteln, die uns zur Verfügung standen, kommen konnten. Zuerst dachten wir an Brüssel, gaben den Gedanken daran aber wieder auf. Die Belgier waren uninteressant, darin waren wir uns einig. Für das gleiche Fahrgeld konnten wir auch nach Luxemburg fahren. Wir waren schon ziemlich angeheitert, und Luxemburg schien uns genau der richtige Ort, wohin man um sechs Uhr morgens fahren mußte. Wir packten gar nicht erst die Koffer. Wir brauchten nur unsere Zahnbürsten, und selbst die vergaßen wir in der Hetze des Aufbruchs, um den Zug nicht zu verpassen.
Ein paar Stunden später hatten wir die Grenze überschritten und stiegen in den glänzenden, polstergeschwellten Zug, der uns in das Operettenland bringen sollte, auf das ich so neugierig war. Wir kamen gegen Mittag verschlafen und benommen an, verzehrten ein üppiges Mahl, das wir mit einheimischem Wein hinunterspülten, und sanken dann ins Bett. Gegen sechs Uhr rafften wir uns auf und schlenderten hinaus. Es war ein friedliches, sattes, beschauliches Land, wo man überall deutsche Musik hörte. Die Einheimischen strahlten vor Zufriedenheit, ganz wie glückliche Kühe.
Im Nu hatten wir uns mit Schneewittchen angefreundet, der Hauptattraktion eines Cabarets in der Nähe des Bahnhofs. Schneewittchen war etwa fünfunddreißig, sie hatte flachsblonde Haare und seelenvolle blaue Augen. Sie war erst seit einer Woche da und langweilte sich bereits. Wir tranken zwei Whisky-Soda mit ihr, walzten sie ein
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