Stille über dem Schnee
sind sicher Fingerabdrücke da«, meint mein Vater.
»Jede Menge«, bestätigt Warren, »aber sie werden uns nicht
weiterhelfen, es sei denn, wir haben es mit einem Vorbestraften zu tun â was
ich stark bezweifle.« Er zieht ein Taschentuch aus der Hüfttasche seiner Hose
und schneuzt sich. »Das kleine Mädchen, das Sie gefunden haben«, sagt er, »ist
in diesem Zimmer zur Welt gekommen. Und dann ist jemand, höchstwahrscheinlich
der Vater, durch dieses Fenster hinausgestiegen und wollte sie töten. Sie wurde
nicht an einem Ort ausgesetzt, wo es warm war und wo man sie gefunden hätte. Es
wurde kein telefonischer Hinweis gegeben. Ein Mann ist mit diesem Neugeborenen,
das nur ein paar Minuten alt war, an einem kalten Dezemberabend in den Wald
hinausgegangen und hat es nackt in einem Schlafsack zurückgelassen. Wenn Sie
die Kleine nicht gefunden hätten, wann je wären wir auf sie gestoÃen? Im März
vielleicht? Oder im April? Wenn überhaupt. Wahrscheinlich hätte vorher ein Hund
sie aufgestöbert.«
Ich stelle mir einen Hund vor, der in seinem Maul einen Knochen durch
den Schnee schleift. Mein Vater bleibt neben Warren stehen, während der mit
einem der Techniker spricht. Chief Boyd steht, mit schmal zusammengepreÃten
Lippen, an die Wand gelehnt. Er kann mich von seinem Standort aus nicht sehen.
Ich versuche, mir auszumalen, was sich in diesem Zimmer abgespielt hat. Ich
weià nicht viel über den Geburtsvorgang, aber ich kann noch die Hysterie
zwischen diesen Wänden spüren, ich sehe die zerknitterten Laken, die zurückgelassenen
Kleidungsstücke. Hat die Frau gewuÃt, was der Mann mit dem Neugeborenen
vorhatte? Die Socke ist perlgrau, Angorawolle vielleicht, mit einem Zopfmuster
an der Seite; der Strumpf einer Frau, der GröÃe nach zu urteilen. Ein Techniker
hebt ihn vom Boden auf und schiebt ihn in einen Plastikbeutel.
»In den fünfzehn Jahren, seit ich bei der State Police bin«, sagt
Warren, »habe ich vielleicht fünfundzwanzig Fälle erlebt, wo Kinder ausgesetzt
wurden. Vor drei Monaten hat in Lebanon eine Frau einen Säugling vor ihrem Haus
in die Mülltonne geworfen. Sie hatte sich mit ihrem Freund verkracht. Der
Kleine war tot, als wir ihn fanden. Die Nase mit Campbellâs-Suppe verstopft.«
Ein Techniker unterbricht Warren mit einer Frage.
»Im letzten Jahr«, fährt Warren fort, »hat eine Vierzehnjährige ihr
Neugeborenes aus einem Fenster im ersten Stock geworfen. Sie steht jetzt wegen
versuchten Mordes vor Gericht.« Warren mustert ein Wasserglas und einen
Plastikbeutel auf dem Nachttisch. »In Newport haben wir ein neugeborenes
kleines Mädchen in einem Regal im Supermarkt gefunden. Es hat noch gelebt.
Drüben in Conway haben sie einen wenige Stunden alten Jungen im Müllcontainer
hinter einem Restaurant gefunden. Die Mutter war zwanzig. DrauÃen war es eiskalt.
Sie steht ebenfalls wegen versuchten Mordes vor Gericht.« Warren geht in die
Knie, um unter das Bett zu schauen. »Was noch? Oh, in Manchester hat eine
achtzehnjährige Mutter ihr kleines Mädchen im Park ausgesetzt. Sie hat den Säugling
in einer Plastiktüte zurückgelassen, und zwei zehnjährige Mädchen entdeckten
das Baby, als sie durch den Park radelten. Können Sie sich das vorstellen? Die
Mutter ist wegen heimtückischen versuchten Mordes angeklagt.«
Warren richtet sich auf. Er zeigt unter das Bett und fragt einen
Techniker etwas. »Und hören Sie sich das an: Vor zwei Jahren merkte eine
Schülerin der letzten High-School-Klasse, daà sie schwanger ist. Sie sagte
keinem Menschen etwas davon und vertuschte es, indem sie übergroÃe Sweatshirts
und weite Hosen trug. Dabei hoffte sie die ganze Zeit, sie würde eine
Fehlgeburt haben. Aber das passierte nicht. Im Herbst fing sie ihr Studium am
College an. Am Tag vor Thanksgiving, als alle anderen nach Hause gefahren
waren, brachte sie in ihrem Zimmer im Wohnheim ein Mädchen zur Welt. Sie
wickelte es in ein T -Shirt und einen Pulli, packte
es in eine Plastiktüte vom Supermarkt und trug es drei Treppe hinunter. Unten
deponierte sie es in einer Mülltonne direkt vor dem Wohnheim.«
Warren geht zum Fenster und schaut hinaus.
»Aber die Studentin hatte ein Gewissen«, sagt er. »Sie hat anonym
beim College-Sicherheitsdienst angerufen, und die sind gekommen und haben das
Kind geborgen. Die Mutter war natürlich
Weitere Kostenlose Bücher