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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Gründen, die wir nie erfahren werden – hat vielleicht Clara mit ihrem
kindlichen Charme oder ihrem Greinen meine Mutter veranlaßt, nur einen Moment
lang den Kopf zu drehen? -, geriet meine Mutter auf dem Highway auf die
Fahrbahn eines entgegenkommenden Lastzugs. Der Fahrer, der abgesehen von einer
Schulterluxation ohne Verletzungen davonkam, sagte, er sei knapp über hundert
gefahren, als plötzlich der grüne VW seinen
Weg gekreuzt habe.
    Mein Vater, der auf der Weihnachtsfeier seiner Firma in Manhattan
war und seinen zweiten Martini trank, als seine Frau und sein Kind starben,
erfuhr erst kurz vor Mitternacht von dem Unfall. Als er heimkam und das Haus
leer vorfand, wartete er ungefähr eine Stunde, bevor er zunächst die Freundinnen
meiner Mutter anrief, dann die Krankenhäuser in der Umgebung und schließlich
die Polizei. Von ihr erhielt er eine Auskunft, die er noch Wochen später nicht
in ihrem ganzen Umfang begreifen konnte. Monatelang bildete er sich ein, die
entsetzliche Nachricht hätte es nie gegeben, wenn er nicht angerufen hätte.
    Die Robustheit seines eigenen Autos, eines zehn Jahre alten Saab,
muß ihm wie der reinste Hohn vorgekommen sein, als er in dieser Nacht ins
Krankenhaus fuhr. Die Ärzte fingen ihn auf, bevor er umkippte, und rissen ihm
eilig die Krawatte vom Hals, damit er Luft bekam. Nachdem er meine Mutter identifiziert
hatte, ließen sie ihm eine Minute mit Clara, die bis auf den ovalen blauen
Fleck auf einer Seite der Stirn äußerlich unversehrt war. Eine Vergeudung von
Leben, die in ihrem Ausmaß nicht zu ertragen war; der Anblick von Claras vollkommenem
Körper eine Qual, die sich nur eifersüchtige Götter ausgedacht haben konnten.
    Der Unfall trug sich an einem Freitagabend zu, als ich bei Tara Rice
übernachtete. Mrs. Rice, die nichts davon gehört hatte, war überrascht,
meinen Vater so früh am Samstag morgen vor ihrer Tür zu sehen. Ich wurde aus
dem Schlafsacklager in Taras Zimmer herausgeholt und aufgefordert, meine Sachen
zu packen. Als ich in die Küche kam und meinen Vater sah, wußte ich sofort, daß
etwas Schlimmes passiert war. Sein Gesicht, das noch am Tag zuvor ganz normal
gewesen war, schien wie neu gemeißelt von einem dilettantischen Bildhauer. Als
wären seine Züge umgebildet worden und dabei außer Proportion geraten. Er half
mir, meine Jacke anzuziehen, und ging mit mir zum Wagen. Auf halbem Weg die
Auffahrt hinunter begann ich zu winseln, ein Hündchen bei Fuß.
    Â»Was ist, Dad? Was ist los?«
    Â»Sag doch was, Dad. Warum muß ich jetzt heim?«
    Â»Was ist passiert, Dad? Bitte, was ist passiert?«
    Beim Auto angekommen, riß ich mich von ihm los und wollte zum Haus
zurücklaufen. Vielleicht glaubte ich, durch die Rückkehr ins Haus der Familie
Rice könnte ich die Zeit anhalten und würde niemals das Unaussprechliche hören
müssen, das zu sagen er gekommen war. Er fing mich mühelos ein und drückte mein
Gesicht in seinen Mantel. Ich begann zu weinen, noch ehe er ein Wort gesagt
hatte.
    Mein Schmerz, den ich nicht anders artikulieren konnte als durch
eine Aneinanderreihung hilfloser Worte in einem mit offenem Mund
hervorgestoßenen Jammern, zeigte sich in den folgenden Tagen in kurzen,
heftigen Stürmen, bei denen ich mich niederbeugte und mit den Fäusten auf den
Fußboden schlug oder die Decken von meinem Bett riß. Einmal schleuderte ich
einen Briefbeschwerer gegen die Tür, daß sie in der Mitte einen Riß bekam.
    Der Schmerz meines Vaters hatte nicht die dramatischen Züge wie
meiner; aber er war von einer unbeirrbaren Entschlossenheit, ein Geschöpf mit
eigenem Gewicht. Mein Vater, der seinen Körper einer furchtbaren Starrheit
überließ, saß fast immer mit angespanntem Kinn, krummem Rücken und auf die Knie
gestützten Ellbogen auf einem Stuhl am Küchentisch, wohin ihm Wasser oder
Kaffee und gelegentlich etwas zu essen gebracht wurde. Tagelang saß er so in
unserem Haus in Westchester, unfähig, in die Firma zu fahren.
    Nach den Weihnachtsferien wurde ich mit dem Argument, das würde mich
auf andere Gedanken bringen, wieder zur Schule geschickt. Meine Großmutter kam,
um uns zu versorgen, aber mein Vater wollte sie gar nicht um sich haben: Ihre
Anwesenheit erinnerte ihn nur an glückliche Tage im Sommer, als wir sie in
Indiana besucht hatten. Dort hatten wir mit Clara, die in

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