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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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einem
Plastikschwimmbecken planschte, und meiner Mutter, die in einem schmalen
schwarzen Badeanzug dankbar im Liegestuhl saß, faule Vormittage verbracht. In
der Hitze jener Tage, wenn meine Großmutter auf Clara und mich aufpaßte,
stahlen sich mein Vater und meine Mutter manchmal zu einem Nickerchen ins
frühere Zimmer meines Vaters hinauf, und ich freute mich, daß ich dem verhaßten
Sommerlager entronnen war.
    Eines Tages, mehrere Wochen nach dem Unfall, kam ich nachmittags aus
der Schule nach Hause und fand meinen Vater auf demselben Stuhl sitzend vor,
auf dem ich ihn nach dem Frühstück zurückgelassen hatte, einem hölzernen Küchenstuhl
am Tisch. Ich war sicher, daß die vor ihm stehende Tasse Kaffee mit dem
schwarzen Satz auf dem Grund dieselbe war, die er sich morgens um acht
eingeschenkt hatte. Mich erschreckte die Vorstellung, daß er die ganze Zeit,
während ich in der Schule gewesen war – während wir Mathe und Bio hatten und
uns einen Film mit dem Titel Charly anschauten –, auf
diesem Stuhl gesessen und sich vielleicht überhaupt nicht gerührt hatte.
    Im März teilte mein Vater mir mit, daß wir umziehen würden. Als ich
fragte, wohin, sagte er, in den Norden. Als ich fragte, wohin in den Norden,
sagte er, er habe keine Ahnung.
    Ich setze mich im Bett auf und bemerke das Licht an den Vorhangrändern.
Ich werfe die Decken ab und rutsche zum kalten Fußboden hinunter. Ich ziehe die
Jalousie hoch und hebe die Hand über die Augen. Jedes Ästchen und jedes Blatt, das
der Herbst an den Bäumen zurückgelassen hat, ist mit eisigem Glanz überzogen.
Ich bin hocherfreut über diese Entdeckung. Nicht einmal in New Hampshire fahren
die Schulbusse bei Glatteis. Ich schalte das Radio ein und höre mir an, an welchen
Schulen der Unterricht ausfällt. Städtische Schulen Grantham – geschlossen.
Städtische Schulen Newport – geschlossen. Regionale High-School – geschlossen.
    Ich
dusche mich, frottiere mich ab, ziehe Jeans und Pulli über. Dann mache ich mir
einen Becher Kakao. Auf der Suche nach meinem Vater gehe ich mit dem
Kakaobecher in der Hand durch das Haus, ein langer, schmaler einstöckiger Bau
im Stil der Häuser, die man in Cape Cod baut, mit einer Veranda nach Westen.
Das Haus ist gelb gestrichen und mit Grün abgesetzt, und im Sommer rankt sich
am Verandageländer eine wilde Kletterpflanze empor und bildet eine Art Pergola.
Der Anstrich ist uralt und muß erneuert werden, mein Vater will die Sache im
Sommer in Angriff nehmen. Im vergangenen Sommer, unserem zweiten hier, hat mein
Vater eine kleine Rasenfläche angelegt, die ich von Zeit zu Zeit mähen muß. Im
übrigen hat er das Grundstück so gelassen, wie es war. Wo kein Wald ist, ist
Gebüsch und Wiese, und an Sommerabenden sitzen wir manchmal auf der Veranda,
mein Vater mit einem Bier und ich mit einer Zitronenlimonade, und beobachten
Vögel, die wir nicht benennen können, wie sie über die Spitzen der hohen
Grashalme segeln. Manchmal lesen wir auch.
    Ich trete ins Vorderzimmer, das die ganze Breite des Hauses einnimmt
und zwei hohe Fenster nach Süden hat. Als mein Vater das Haus gekauft hat,
waren die Fensterscheiben mit Farbe zugekleistert, und von der Decke hingen
zwei verstaubte Leuchter herunter. Die Wände waren mit einer verblichenen
blaubedruckten Tapete bespannt, und der offene Kamin war mit Brettern
vernagelt. Mein Vater hat das Haus nur genommen, weil es abgelegen ist und
Anonymität versprach, aber nachdem er zwei Wochen lang praktisch ununterbrochen
auf demselben Stuhl gesessen hatte, ohne viel mehr zu tun, als aus dem Fenster
zu schauen, stand er eines Tages auf und sah sich die Räume an. Er beschloß,
das Haus von Grund auf zu renovieren.
    Im Vorderzimmer fing er an. Die Decke, eine häßliche holprige
Fläche, die aussah wie schimmliger Zuckerguß auf einer übriggebliebenen
Geburtstagstorte, verputzte er ganz neu. Er kratzte Tapete und Farbe von den
Wänden und strich sie weiß. Er kaufte ein Schleifgerät, zog die Böden ab und polierte
sie, bis sie in einem warmen Honigton glänzten. Manchmal mußte ich ihm helfen;
das meiste machte er selbst.
    In dem Zimmer steht jetzt nichts als die Möbel, die mein Vater im
Lauf der vergangenen zwei Jahre angefertigt hat: Tische, Bücherregale und
Holzstühle mit gerader Lehne und geraden Beinen. Es ist ein einfacher, sauberer
Raum,

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