Stille über dem Schnee
auch bald gefunden. Sie machte eine
Notlage geltend und bekam ein Jahr auf Bewährung.«
»Woher wissen Sie, daà das hier ein Mann getan hat?« fragt mein
Vater. »In allen Beispielen, die Sie eben zitiert haben, wurden die Kinder von
Frauen ausgesetzt.«
»Kommen Sie mit«, fordert Warren meinen Vater auf. »Ich zeige Ihnen
etwas.«
Die beiden Männer drehen sich zur Tür um und entdecken mich drauÃen.
Mein Vater stellt sich hastig vor mich, um mir den Blick ins Zimmer
zu versperren, aber wir wissen beide, daà es zu spät ist: Ich habe schon alles
gesehen.
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst im Auto bleiben«, schimpft
mein Vater überrascht und ärgerlich zugleich.
»Mir war so kalt.«
»Wenn ich dir sage, du sollst im Auto bleiben, dann meine ich genau
das.«
»Ist doch nicht so schlimm.« Warren schiebt sich an meinem Vater
vorbei. »Sie kann ruhig mitkommen.«
Mein Vater sieht mich unfreundlich an. Er läÃt mich vorgehen, als
wir Warren um das Motel herum nach hinten folgen. Der Schnee ist tief, Warren
bedeutet uns, in seine bedächtig und präzise gesetzten FuÃstapfen zu treten.
Von einem der hinteren Motelfenster führt eine FuÃspur in den Wald. Das Licht
der Scheinwerfer ist so hell, daà ich meine Augen mit der Hand abschirmen muÃ.
Ungefähr fünfzehn Meter von uns entfernt beugen sich zwei Polizeibeamte über
den Schnee.
»Stiefelabdrücke«, erklärt Warren. »An manchen Stellen sind sie bis
zu sechzig Zentimeter tief. SchuhgröÃe zehneinhalb. Alle fünfzehn Meter oder so
ist der Bursche bis zu den Knien eingesunken. Die Spur geht weit raus, auf
jeden Fall fünfhundert Meter, und führt dann wieder zurück. Wissen Sie, wie
anstrengend das ist?«
Mein Vater sagt, das wisse er.
»Man kann sich dabei die Beine brechen«, sagt Warren.
Mein Vater nickt.
»Städter, meinen Sie nicht auch?« fragt Warren.
»Könnte sein, ja.«
»Eine Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat, hätte das
nicht geschafft.«
»Nein, glaube ich auch nicht«, sagt mein Vater.
Warren wendet sich ihm zu und legt ihm die Hand auf die Schulter.
Mein Vater zuckt zusammen. »Auch wenn Sie partout Ihre Jacke nicht aufmachen«,
sagt der Kriminalbeamte, »Blutflecken am Kragen haben, etwas unzivilisiert
aussehen und an einer einsamen StraÃe nahe bei dem Motel leben, glaube ich
nicht, daà Sie das getan haben.«
Wir fahren mit Chief Boyd in den Ort zurück. Morgen früh werden
es alle erfahren. Ich versuche wieder, mir den Mann und die Frau vorzustellen,
die in das Motel gegangen sind, um ein Kind zur Welt zu bringen und es dann zu
töten. Wo sind sie jetzt?
»Das
da drüben ist mein Laster«, sagt mein Vater, als wir den Parkplatz des
Krankenhauses erreicht haben. Chief Boyd fährt uns hin, und wir steigen aus
seinem Wagen. »Danke fürs Mitnehmen«, sagt mein Vater, aber Boyd, immer noch
schmallippig, antwortet nicht. Er braust mit Vollgas vom Platz.
Wir klettern in den Lastwagen, und mein Vater dreht den Schlüssel.
Der Motor springt sofort an. Schon das zweite Mal! Während wir warten, um den
Wagen warm werden zu lassen, schaue ich durch einen dünnen Belag von
Reifkristallen, die im Lampenlicht des Parkplatzes glitzern, zum Fenster
hinaus. Hinter dem Rauhreif ist die Tür zur Notaufnahme, dahinter wiederum ist
ein Bettchen, in dem ein neugeborener Mensch versucht zu leben.
»Du hättest das alles nicht hören sollen«, sagt mein Vater.
»Ach, das ist es nicht«, erwidere ich.
»Was ist es dann?«
»Ich habe gerade an Clara gedacht.«
Der Laster rüttelt ein wenig im Leerlauf. Unter meinen FüÃen liegt
eine leere Coladose, die mich stört. Mein Vater tritt aufs Gas. Er wendet den
Wagen mit scharfer Drehung auf dem beinahe leeren Platz, und wir fahren in die
Nacht hinaus.
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 DIE BREMSSPUR WAR ZWÃLF METER
LANG .
Der Schwerlastzug schob den VW den
Highway entlang, als wäre er nicht mehr als ein Häufchen Schnee, das aus der
Bahn geräumt werden muÃte.
Meine
Mutter war auf der Stelle tot. Clara, die noch lebte, als die Sanitäter sie aus
dem Wrack holten, starb auf der Fahrt ins Krankenhaus. Es war zehn Tage vor
Weihnachten, und meine Mutter war mit meiner kleinen Schwester, die fast noch
ein Baby war, ins Einkaufszentrum gefahren, um Weihnachtseinkäufe zu machen.
Aus
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