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Stille Wasser sind toedlich

Stille Wasser sind toedlich

Titel: Stille Wasser sind toedlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlie Higson
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Hirschs.
    »Ein sauberer Schuss«, pflichtete MacSawney bei.
    Die drei stapften den Hügel hinauf zu ihrer Beute. Dort angekommen, kniete Randolph nieder und begutachtete die Wunde in der Brust des Tieres.
    »Mitten durchs Herz. Er hat bestimmt nichts gespürt.« Er tauchte seine Hand in das Blut, das unter dem Fell des Tieres hervorquoll, stand wieder auf und schmierte es dem Jungen ins Gesicht.
    »Das erste Blut. Braver Junge.«
    George blinzelte. Das Blut fühlte sich klebrig und warm an. MacSawney grinste ihn an. »Jetzt siehst du wie ein waschechter Indianer aus«, sagte er.
    MacSawney brach das Tier auf, das heißt, er schlitzte seinen Bauch auf und entfernte die Eingeweide, dann zerrten sie es den Berg hinunter und luden es auf das wartende Pony.
    Das war vor sechs Monaten gewesen, im vergangenen Oktober, und nun blickte der Kopf des Hirschs von der Wand des Speisesaals herab. George Hellebore schaute in die glasigen Augen und dachte an den Tag und daran, wie sie im Nieselregen den Berg hinunterstapften und das Blut über sein Gesicht in die Augen und den Mund rann. Damals war ihm zum ersten Mal jener fürchterliche Gedanke durch den Kopf geschossen.
    Der Gedanke an seine Mutter.
    Er fühlte sich verloren und einsam und verwirrt und er vermisste sie schrecklich.
    Und seit er sich dessen bewusst war, wurde er diesen Gedanken nicht mehr los, und nun vermisste er sie mehr als je zuvor.
    Schuld daran war dieses Schloss. Er hasste es, seine Schwermut, seine Dunkelheit, seine winzigen Fenster und seine riesigen, wuchtigen Mauern. Zuerst hatte es ihm gefallen. Für einen Jungen war es natürlich ein unglaublich aufregender und romantischer Ort mit all den Türmen und Brüstungen, den verborgenen Durchgängen und Verstecken. Er hatte sich ausgemalt, wie die Ritter hier lebten und bedeutende Schlachten schlugen, und sich Messer schwingende Hochlandkrieger in Kilts vorgestellt. Es war ein schöner Platz zum Spielen. Aber er hatte nie jemanden gehabt, mit dem er seine Abenteuer teilen konnte, und allmählich verlor er das Interesse. Ritterspiele reizten ihn nicht länger und das Schloss wurde mehr und mehr zum Gefängnis. Hier gab es nichts, was bequem gewesen wäre, nichts Kuscheliges und Warmes. Wo immer man hinschaute, hingen Waffen an den Wänden, tote Tiere, ausgestopfte Fische, und überall waren riesige, massige Möbel, die nicht zum Sitzen einluden. Nur Männer waren da und Sachen, die Männern gehörten. Sogar das Küchenpersonal bestand nur aus Männern.
    George fröstelte, obwohl es nicht besonders kalt war. Wegen seiner dicken Wände hatte der Speisesaal das ganze Jahr über die gleiche Temperatur. Im Winter hielten die Mauern die Wärme ab, im Sommer die Hitze. Dennoch brannte bei jedem Wetter ein großes Holzscheit im Kamin.
    Rechts und links vom Kamin standen zwei Rüstungen und darüber hing ein ausladendes altersdunkles Ölgemälde. Es wirkte gewalttätig und irritierend und entsprach ganz dem viktorianischen Geschmack. Es zeigte eines der klassischen Themen, die man damals so liebte: den Kindermord von Bethlehem, als Herodes, gewarnt, dass der künftige König der Juden in Bethlehem geboren werde, befahl alle Knaben unter zwei Jahren zu töten. Abgebildet waren Männer, einige als römische Soldaten gekleidet, andere halb nackt in wallenden Gewändern, die eine Gruppe von Frauen und Kindern mit Kurzschwertern und langen Messern angriffen. Die Frauen schrien vor Angst und versuchten ihre Kinder zu schützen. In der Mitte des Bildes hielt ein Mann ein kleines Kind hoch, andere Babys wurden zertrampelt.
    George hatte sich oft gefragt, ob ein solches gewalttätiges und verwirrendes Bild der geeignete Schmuck für ein Esszimmer war. Allerdings bezweifelte er, dass sein Vater jemals auch nur einen Blick darauf geworfen hatte. George hingegen betrachtete es oft, denn eine der Frauen beeindruckte ihn sehr.
    Sie stand abseits und etwas verdeckt, ihr Gesicht war gerade noch zwischen zwei silbernen Klingen zu erkennen, und doch war da etwas in ihrem Ausdruck …
    Er hatte keine Bilder von seiner Mutter, nichts, das ihn mit ihr verband, und er verabscheute den Gedanken, dass diese angsterfüllte Frau alles sein könnte, was ihn an sie erinnerte.
    Als er und sein Vater vor fünf Jahren Amerika verließen und nach England umzogen, hatten sie seine Mutter zurückgelassen, und Lord Randolph hatte ihm kurz und bündig erklärt: »Du wirst deine Mutter niemals wieder sehen.«
    Sie waren auf dem Deck des Dampfschiffs SS

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