Stille Wasser sind toedlich
Holden spazieren gegangen, obwohl es mitten im Winter war, als sie den kalten grauen Atlantik überquerten. Es war stürmisch an diesem Morgen, Regentropfen peitschten wie Nadeln über das Deck, und die Gischt der riesigen Wellen, die sich um sie herum auftürmten, krachte mit einem Getöse wie Kanonendonner gegen den Rumpf des Schiffes. Außer ihnen war niemand an Deck, keiner war so verrückt, aber Lord Randolph bestand darauf, jeden Morgen um neun zur Leibesertüchtigung fünfmal das Schiff auf- und abzulaufen, egal, bei welchem Wetter. George war fürchterlich seekrank und sprang oft zur Seite, um sich über der Reling zu übergeben. Den Vater ließ dies alles kalt, sowohl das Wetter wie auch das Befinden seines Sohnes. Er hätte ebenso gut an einem sonnigen Nachmittag durch den New Yorker Central Park spazieren und über Baseball reden können, so wenig machte es ihm aus.
Aber er redete nicht über Baseball. Er redete über Georges Mutter.
»Sie war eine schwache Frau«, schrie er gegen den Wind an.
»Du redest von ihr wie von einer Toten«, sagte George und fühlte sich erbärmlich.
»Für dich ist sie das auch«, sagte Randolph knapp. »Wir brauchen keine Frauen in unserem Leben.«
George hatte das alles nicht wirklich begriffen. Man hatte die ganze Angelegenheit von ihm fern gehalten und er hatte nur einige Brocken aufgeschnappt aus den Andeutungen seines Kindermädchens und aus Zeitungsartikeln, die er heimlich aus dem Papierkorb gerettet und gelesen hatte, als sein Vater unterwegs war.
Daher wusste er, dass eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hatte, in der auch ein anderer Mann eine Rolle spielte, der Liebhaber seiner Mutter, und dass sein Vater die teuersten Rechtsanwälte aufgeboten hatte, um sich das Sorgerecht für George zu sichern.
Anfangs konnte George mit dem Begriff Sorgerecht nicht viel anfangen, doch es dauerte nicht lange und ihm wurde klar, was er bedeutete: Von nun würde er bei seinem Vater leben und seine Mutter niemals wieder sehen.
George war damals noch sehr jung gewesen, zu jung, als dass ihn diese Regelung gestört hätte. Er hatte Randolph verehrt und war glücklich in seiner Nähe zu sein, und in all den Jahren hatte er kaum mehr als einmal an die Frau gedacht, die sie in Amerika zurückgelassen hatten. Aber in dem Augenblick, als er das Blut des toten Hirschs aus seinem Gesicht wischte und er MacSawney und seinem Vater dabei zusah, wie sie das Tier durch das Gras zerrten, spürte er eine entsetzliche Leere in sich, so als ob ein wesentlicher Teil von ihm fehlte.
Er konnte seinem Vater nichts davon erzählen, er konnte mit niemandem darüber sprechen, sie hätten ihn sonst für eine Heulsuse gehalten. Die schlimmste Beleidigung überhaupt. Einmal war er aufgewacht und hatte geweint, weil er von seiner Mutter geträumt hatte. Die ganze Nacht war er wach gelegen, zu traurig und zu verängstigt, um wieder einzuschlafen, und als er beim Frühstück seinem Vater davon erzählte, hatte Randolph ihn mit einem Rohrstock geschlagen und gesagt, er solle nicht so weichlich sein und sich derart kindische Gedanken aus dem Kopf schlagen.
Während er in der großen Halle beim Abendessen saß, dachte er an die Schläge zurück und erinnerte sich daran, wie ungerecht sie gewesen waren. Als ob irgendjemand das Recht hätte, über seine Träume zu bestimmen!
Sie saßen zu dritt am Tisch, er selbst und drüben, am anderen Ende, sein Vater und der Forschungsleiter seines Vaters, Dr. Perseus Friend. Er war ein magerer blasser Mann in den Dreißigern, dem bereits das wirre blonde Haar auszufallen begann und der ständig seine Nickelbrille putzte. Perseus war der einzige Mensch, der jemals mit ihnen am Tisch saß. Randolph arbeitete rund um die Uhr und er pflegte seine Fortschritte während des Abendessens mit Perseus zu besprechen.
Perseus Friend war in Deutschland geboren, sein Vater war Ire, seine Mutter Russin. Sein Vater hatte für die deutsche Wehrmacht gearbeitet und während des Krieges Giftgas entwickelt, das in den Schützengräben zum Einsatz kam, darunter Chlor, Phosgen und Senfgas.
Nach dem Krieg war es den besiegten Deutschen verboten, eine richtige Armee aufzustellen und Arbeiten wie die von Professor Friend waren strengstens untersagt. So reiste Perseus’ Vater um die Welt und bot seine Dienste dem Meistbietenden an. Und überall, wo er hinging, begleitete ihn Perseus und lernte dabei, so viel er konnte.
Zuerst waren sie in Japan, dann in Argentinien und schließlich in
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