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Stille Wasser sind toedlich

Stille Wasser sind toedlich

Titel: Stille Wasser sind toedlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlie Higson
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bis weiter hinauf ist das Gelände zu frei; wir sind weit oberhalb der Baumgrenze, und wenn wir den Felsrinnen folgen, dann bekommt er Wind von uns.«
    Randolph wandte sich zu George und lächelte ihn an, wobei seine großen weißen Zähne unter seinem goldfarbenen Schnurrbart hervorschauten.
    »Na denn los, mein Sohn«, sagte er, »er gehört dir ganz allein.«
    »Ich weiß nicht recht, Dad«, erwiderte George. »Die Entfernung ist ziemlich groß.«
    »Nein. Es ist an der Zeit, dass du deinen eigenen Hirsch schießt. Heute ist es so weit.«
    George seufzte und ließ sich auf allen vieren nieder. Er war müde und hungrig und pudelnass. Sie waren dem Hirsch seit fünf Uhr morgens gefolgt. Nun war es fast schon dunkel, und alles, was sie gegessen hatten, waren Haferplätzchen. Sie waren bei Anghreach Mhòr, weit oberhalb von Loch Silverfin und dem Schloss. Die Gegend hier war kahl und karg und der kalte Nieselregen hatte die Kleider völlig durchnässt.
    Er nahm den Hirsch, der mit ruckartigen Kopfbewegungen an jungen Heidekrautschösslingen und Gras zupfte und dabei ständig auf der Hut war, ins Visier.
    George war nicht erpicht darauf, das arme Tier zu erschießen, aber sein Vater erwartete es von ihm. Für seinen Vater war dies das Lohnendste überhaupt, was ein Mann machen konnte. Wie oft hatte er von den Freuden der Pirsch geschwärmt.
    »Wir sind wie die Indianer«, pflegte er zu sagen. »Wir vergessen all die armseligen Verlockungen der Zivilisation. Mann gegen Tier, das ist der Platz, der dem Mann in der Natur gebührt. Der Mensch ist ein Jäger. Wir vergessen das heute leicht, aber so haben wir angefangen. Um ein Tier zu erlegen, braucht es Kraft, Stärke, Ausdauer, Geduld, eine ruhige Hand und ein schnelles Auge.«
    Während George ihn belauerte, wandte sich der Hirsch um und ging bedächtig und vorsichtig bergauf.
    »Er bewegt sich zu sehr«, flüsterte George.
    »Ah«, stieß MacSawney zwischen den Zähnen hervor. »Wenn du noch lange hier sitzt, Bürschchen, dann wird er schnurstracks über den Gipfel dieses Berges gelaufen und schon halb in Glen Shiel sein. Du hast nur einen Schuss. Nutze ihn.«
    George wusste nur allzu gut, dass MacSawney ihn nicht leiden konnte. MacSawney mochte niemanden außer Lord Hellebore. Er war bösartig, ein Spötter und ein Trunkenbold. Der frühere Gutsbesitzer war streng mit ihm gewesen und hatte so seine schlechten Eigenschaften gezügelt, aber Randolph hatte ihm freie Hand gegeben und mehr Macht, als er jemals zuvor besessen hatte. Auf diese Weise war er für ihn unverzichtbar und seine rechte Hand geworden. Tatsächlich hatte Lord Randolph sogar etwas Angst vor ihm. MacSawney war für Randolph eine Autorität im Dorf, ein weiser, alter Mann, der alle Überlieferungen kannte und der über alles, was mit dem Land und den Tieren zusammenhing, Bescheid wusste. George hingegen hatte längst begriffen, dass MacSawney keine Liebe für die Tiere empfand. Für ihn waren sie nur ein Mittel zum Lebensunterhalt, sie verdienten nicht mehr Zuneigung oder Achtung als ein Fels oder ein Baum. George war davon überzeugt, dass MacSawney Tiere im Grunde genommen hasste und keine Rechtfertigung dafür brauchte, um sie zu erschießen, ihnen mit Fallen nachzustellen, sie zu vergiften oder sie auch manchmal totzuschlagen.
    »Töte ihn«, zischte MacSawney. »Los doch. Es ist deine letzte Chance.«
    George zielte auf die Vorderläufe des Tieres und holte tief Luft. Er wusste, was er tun musste, und sagte es sich leise vor: »Ziele auf die Beine, und wenn du etwas Braunes siehst, dann schieß … Ziele auf die Beine, und wenn du etwas Braunes siehst, dann schieß …«
    Aufgeregt wie er war, versuchte er das Gewehr ruhig zu halten und zog den Abzug vorsichtig nach hinten. Noch immer hielt er die Luft an. Das Tier bewegte sich. George atmete aus und fluchte leise. Sein Vater würde wütend werden, wenn er den Hirsch entkommen ließe.
    Er hatte keine Wahl. Schnell legte er wieder auf sein Ziel an, schloss die Augen und drückte ab.
    Er fühlte, wie das Gewehr mit einem gewaltigen Rückstoß gegen seine Schulter schlug, hörte, wie der betäubende Knall durch das Tal hallte – und als er seine Augen wieder öffnete, war keine Spur von dem Tier zu sehen.
    War es geflohen? Hatte er völlig daneben geschossen oder, noch schlimmer, das Tier nur verwundet?
    »Gut gemacht Junge, gut gemacht.« Randolph klopfte ihm auf die Schultern. George nahm das Fernglas und starrte auf den leblosen Körper des

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