Stille Wasser
Fischerdörfern entlang der Küste erzählte. Demnach leben die Selkies als Seehunde im Meer, können jedoch an Land menschliche Gestalt annehmen. Für diese Verwandlung benötigen sie allerdings ihre magischen Seehundfelle – aber ich schätze, das weißt du alles längst.«
»Erraten«, gab Buffy trocken zurück. »Und was machen wir nun mit dem kleinen Selkie, das derzeit ohne funktionierendes Fell in Giles’ Wohnung herumplantscht?«
»Beinahe alle Geschichten, an die ich mich erinnern kann, handeln von erwachsenen Selkies, ein paar wenige berichten von männlichen Vertretern ihrer Art, die sich in Menschenfrauen verliebt haben, meistens geht es jedoch um 31
weibliche Selkies, die von irgendwelchen Kerlen gefangen und zur Frau genommen worden sind. Manchmal mit glücklichem, häufiger mit weniger glücklichem Ausgang. Wie ich schon sagte, nicht wenige haben die alten Legenden dazu genutzt, ihre langweilige Familiengeschichte ein bisschen aufzupolieren. Es sollen angeblich heute noch einige aus solchen Verbindungen hervorgegangene Ururenkel herumlaufen, mit Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen, die Zeugnis ablegen von dem Selkie-Blut, das in ihren Adern fließt.«
Automatisch betrachtete Buffy ihre Hände, dann wurde ihr bewusst, dass Angel sie dabei beobachtete, und rasch sagte sie:
»Alles in allem sind sie also nicht bösartig, richtig?«
Abermals zog der Vampir die Stirn in Falten. »Nun ja... nein.
Nicht bösartig. Vielleicht manchmal ein wenig grausam, zumindest vom Standpunkt eines Menschen aus gesehen, vermute ich. Aber Giles wird sicherlich mehr darüber wissen als ich.«
In diesem Moment trat ein Vampir hinter einer Grabfigur hervor und schrak sichtlich zurück, als er registrierte, wen er sich da als Opfer auserkoren hatte.
»Mr. Lawrence. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie wieder auftauchen würden, um mir das Leben schwer zu machen.« Buffy seufzte und stapfte ihrem ehemaligen Fahrlehrer entgegen, den Pflock in der Hand.
»Um ehrlich zu sein«, gestand Giles mit nicht zu übersehendem Widerwillen und blickte von dem auf seinem Schreibtisch bedrohlich anwachsenden Bücherhaufen auf,
»mein Wissen ist, was Selkies anbelangt, nur äußerst begrenzt.
Da sie im Allgemeinen als, nun ja, eher gutartig gelten, bestand bisher wenig Veranlassung, sich näher mit ihnen zu befassen.«
»Oder gar umfangreiche Recherchen anzustellen«, fügte Willow gereizt hinzu, schloss mit einem Knall ein weiteres 32
Buch und warf es auf den ebenfalls immer größer werdenden Haufen neben dem Sofa, auf dem sie sich niedergelassen hatte.
Um Ariel nicht unnötig neugierigen Blicken auszusetzen, hatten sie vorübergehend ihre Operationsbasis in Giles’
Wohnung verlegt. Nachdem sie alles in Frage kommende Material aus der Bibliothek in Giles’ ohnehin von Büchern überquellende Privatgemächer geschleppt hatten, sah es dort aus wie in einer Buchbinderei, in die eine Bombe eingeschlagen war. Doch weder Giles noch Willow noch das kleine Selkie-Mädchen schienen das Chaos aus Büchern und schweren Wälzern, das um sie herum herrschte, überhaupt wahrzunehmen.
»Wie kann es sein, dass so viele Bücher so wenig brauchbare Informationen enthalten? Und die ganzen Websites erst«, schnaubte Willow verächtlich. »Jede Menge Märchen und haarsträubende Geschichten, die sich nicht einmal mit dem decken, was in den alten Legenden berichtet wird. Als hätten sich irgendwelche Leute die Geschichten einfach mal eben so ausgedacht.«
»Möglicherweise stimmt das sogar«, erwiderte Giles. »Wenn dir eine Geschichte ohnehin als unrealistisch und völlig an den Haaren herbeigezogen erscheint, was sollte dich davon abhalten, sie nach Belieben umzuschreiben und dir deine eigene Version zu stricken? Ein altes Übel, mit dem ernsthaft ambitionierte Volkskundler oder, wie in diesem Fall, Okkultologen seit jeher zu kämpfen haben.«
Ariel, die immer noch in Willows ausrangierten Klamotten steckte, lag zusammengerollt am anderen Ende des Sofas und beobachtete die beiden Menschen aus großen Augen. Nach wie vor klammerte sie sich krampfhaft an ihr Seehundfell, doch ihre Blicke wirkten längst nicht mehr so furchtsam, ihre Körperhaltung bei weitem nicht mehr so angespannt wie noch wenige Stunden zuvor. Sie in Giles’ Auto zu verfrachten war nicht ganz so einfach gewesen – für Xander Grund genug für 33
die Bemerkung, selbst Selkies könnten mit einem Blick erkennen, dass es sich bei der Mühle um eine potentielle
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