Stille Wasser
Todesfalle handele. Doch hier, in der abgedunkelten, kühlen Wohnung, hatte sie sich allmählich wieder so weit beruhigt, dass selbst das schrille Läuten des Telefons sie nicht mehr allzu sehr aus der Fassung zu bringen vermochte.
»Ja...«, fuhr Giles fort, nachdem er einen weiteren Text überflogen, für unbrauchbar befunden und beiseite gelegt hatte.
»Es waren immer die eher romantischen Geschichten, die die Herzen der Masse eroberten. Und – auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole – Selkies gehörten zu keiner Zeit zu den Wesen, mit denen sich ein Wächter auseinander setzen musste.«
Er lehnte sich zurück, griff zu seiner Tasse und nahm einen kleinen Schluck Tee. »Sie gelten gemeinhin als eine Spezies, der grundsätzlich eine gewisse Überheblichkeit zu eigen ist, abgesehen natürlich von den wenigen ihres Volkes, die an Land gingen, um den Rest ihres Lebens mit einem Menschen zu teilen. Obwohl«, fügte er hinzu, »sich in den wenigsten dieser Fälle glaubhaftere Quellen finden lassen als alte Familienchroniken. Es ist wirklich zum Auswachsen.«
Abermals gab Willow ein verächtliches Schnauben von sich, ein ganz und gar nicht damenhaftes Geräusch. »Das kann man wohl sagen! Da haben wir nun einen Riesenhaufen von Büchern und in allen steht immer nur das Gleiche. Und nichts von alldem scheint wirklich zusammenzupassen, weil die eine Hälfte der Informationen der anderen völlig widerspricht und –
“
»Willkommen in der wunderbaren Welt der Quellenforschung. Vielleicht verstehst du nun, warum ich es vorziehe, mit Primärtexten zu arbeiten.« Giles’ Denkerstirn zog sich mit einem Mal in Falten. »Natürlich, warum habe ich nicht gleich...« Er richtete sich kerzengerade in seinem Stuhl auf, trommelte mit einer Hand gegen den aufgetürmten 34
Bücherstapel, schien einen Moment angestrengt nachzudenken, schnippte schließlich mit den Fingern und stürmte wie ein geölter Blitz die Treppe hinauf, über die man in die oberen Räume gelangte.
»Giles?«, rief Willow ihm völlig perplex hinterher.
Ariel starrte aufgeschreckt aus weit aufgerissenen Augen abwechselnd Willow und die Treppe an, als wollte sie fragen, wohin der merkwürdige große Mann verschwunden war.
»Hey, ist ja gut«, beruhigte sie Willow. »Alles in Ordnung.«
Das Selkie kuschelte sich wieder in seine Wolldecke und gab ein Geräusch von sich, das wie ein leises Gähnen klang – laut der umfassendsten Website über Seehunde, die Willow im weltweiten Netz hatte finden können, ein Ausdruck von Zufriedenheit. Nun, bei Seehunden jedenfalls. Bei Selkies könnte es durchaus etwas völlig anderes bedeuten. Vielleicht aber auch nicht. Sie war sich nicht sicher, ob alles, was sie dort gelesen hatte, auch auf diese Wesen übertragbar war. Obwohl einige Verhaltensmuster, die für Wölfe galten, auch auf Werwölfe zutrafen; in diesem Punkt hatten sie reichlich Erfahrungen sammeln können. So gesehen stellten die Informationen aus dem Internet zumindest einen ersten Ansatz dar.
Dem Ratschlag auf der Website folgend, streckte Willow eine Hand aus, die Handfläche nach unten, und ließ sie sanft auf das Sitzpolster sinken, weit genug von ihrem scheuen Gast entfernt, sodass dieser sich nicht bedroht fühlen konnte. Je häufiger sie diesen Vorgang wiederholte, umso rascher würde Ariel ihn als tröstlich empfinden. Angeblich.
»Wenn wir dir helfen sollen«, begann sie im Plauderton,
»werden wir nicht darum herumkommen, dein Fell etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Was bedeutet, dass du nicht darum herumkommen wirst, uns ein klein bisschen zu vertrauen. Anderenfalls hängst du nämlich mehr oder weniger hier fest. Und das hier ist wirklich nicht der richtige Ort für 35
dich, wenn du verstehst, was ich meine.« Willow verdrehte anlässlich ihrer eigenen Worte die Augen. »Was offensichtlich nicht der Fall ist. Weil du ja kein Englisch kannst. Ein Problem, das wir bisher noch nicht hatten.«
Diese Erkenntnis verblüffte sie selbst. »Wow. Das stimmt.
Alle Dämonen sprechen Englisch. Als ob es so etwas wie die offizielle Sprache der Hölle wäre. Oder haben die vielleicht so eine Art satanischen Universaltranslator? Oder irgendeinen Zaubertrick? So was könnte ich echt gut für den Französischunterricht gebrauchen. – Hey, Giles! Was gefunden?«
Der Bibliothekar kam langsam die Treppe herunter, blieb auf der untersten Stufe stehen und betrachtete das Buch, das er in der Hand hielt. »In der Tat, ja, ich glaube, das habe
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