Stille Wasser
Unterwasserwelt leben.«
»Oh, Sie meinen, so etwas wie... übernatürliche Wesen.«
Toll, da ging ein weiterer Nachmittag dahin, der eigentlich ganz nett hätte werden können. Was war mit dieser Stadt bloß los?
Er schien irgendwie peinlich berührt. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir alle entstammen letztendlich dem Ozean, der Mutter allen Lebens auf diesem Planeten. Wer sind wir denn, dass wir behaupten, es gäbe in den Tiefen des Ozeans keine weiteren, noch unentdeckten Lebensformen?“
Wider ihren Willen erwachte in Cordelia die Neugier. »Sie meinen, so wie diese schlauchartigen Dinger, die man am Grund des Meeres gefunden hat, in der Nähe unterseeischer vulkanischer Kamine? Ich hab mal was darüber gelesen.
Irgendwo.«
»Ja, genau.« Er strahlte sie an, als hätte sie soeben einen Preis gewonnen. »Doch dabei handelt es sich um ziemlich einfache Organismen. Was, wenn man eines Tages in der Tiefe auf wesentlich komplexeres Leben stößt? Oder vielleicht sogar nur wenige hundert Meter unterhalb der Meeresoberfläche?«
Er beugte sich vor, schaute sie jäh und mit durchdringendem Blick an. »Haben Sie jemals etwas von den Selkies gehört?
Den Seehund-Menschen?«
Wow. Ariel. Mit einem Mal gingen bei Cordelia sämtliche Alarmglocken los. »Ja. Wieso?«, tastete sie sich behutsam vor.
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Zu ihrer Verwunderung wandte Dr. Lee seinen stechenden Blick wieder von ihr ab. Stattdessen schaute er betreten auf das Gras zu ihren Füßen, als wäre ihm das Thema plötzlich peinlich. »Es ist... zu unglaublich«, murmelte er schließlich.
Für Sunnydale? Im Leben nicht! »Was?« Als er keine Antwort gab, setzte Cordelia hartnäckig hinterher: »Es ist schon okay. Glauben Sie mir, in dieser Stadt weigert man sich strikt, das kleine Wörtchen ›unglaublich‹ überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die Leute hier sind wahre Meister im Ignorieren.«
Und wem sollte sie auch schon von diesem Gespräch erzählen? Auf keinen Fall dieser Versagerbande in der Bibliothek, so viel stand schon mal fest. Vorausgesetzt, er war nicht aus ähnlichen Motiven hinter Ariel her wie damals dieser Prämienjäger hinter Oz. Doch wer würde einem kleinen Kind wie ihr schon ein Leid antun wollen? Vielleicht ein Pelzjäger?
Pah, wer lief denn heutzutage noch mit einem Robbenfell herum? Standen Seehunde nicht ohnehin auf der Liste bedrohter Tierarten? Wenn nicht mal ihre Mutter so ein Ding besaß, war es mit Sicherheit illegal und aus der Mode.
»Äh... na schön.« Dr. Lee blickte wieder zu ihr auf. Er wirkte plötzlich ungeheuer erschöpft. »Sie sind mehr als nur eine Legende, Ms. Chase. Es gibt sie tatsächlich.«
»Ah-hah. Und sie sind sich da deshalb so sicher, weil...?«
»Weil ich eines von ihnen geheiratet habe.«
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»Geheiratet?« Es brach aus ihr heraus wie ein entsetztes Quieken. »Aber sie ist doch nur ein –“ Hoppla, nur weiter so, Chase. Erzähl ihm am besten gleich alles. »Ich meine, ein Mensch und Seehund zugleich.«
Lee nestelte an seiner Krawatte herum und schien offenbar seine Worte bereits zu bereuen. Cordelia glaubte einen Anflug von Panik in seinen Augen zu erkennen. Sie musste unbedingt mehr aus ihm herausbekommen. Falls diese Geschichte irgendetwas mit Ariel zu tun hatte – falls er ihr etwas antun wollte...
Was dann?, musste sie sich selbst fragen. Mit den Füßen auf den Boden stampfen und ihn bitten, die Robbe wieder herauszurücken? Bleib realistisch. Das Einzige, was du tun kannst, ist, diesem durchgeknallten Typen tunlichst aus dem Weg zu gehen. Wie war das noch? Niemals wieder die Menschheit retten? Cordelias letztes Wort? Ende, aus, basta?
Andererseits bedeutete Wissen Macht. Und die brauchte man in dieser Stadt ohne jede Frage.
»Tut mir Leid«, sagte sie schließlich. »Bitte, erzählen Sie mir mehr darüber?«
Er hörte auf, an seiner Krawatte herumzufummeln, strich sie glatt und sah ihr direkt in die Augen. »Maelen war eine Frau, Ms. Chase. Kein Mensch zwar, aber wunderschön. Beinahe ebenso betörend«, fügte er verbittert hinzu, »wie falsch.«
Oh, das Lied kenne ich doch, ging es Cordelia durch den Kopf. Oh Mann, und wie ich das kenne. Das Gefühl von Seelenverwandtschaft, das sie plötzlich beim Anblick des um etliche Jahre älteren Mannes empfand, erweckte in ihr aufrichtige Sympathie. »Was ist passiert?«
»Wir begegneten uns eines Morgens am Strand. Es war reiner Zufall. Ich war noch Student und arbeitete gerade an 122
meiner Abschlussarbeit. Das Meer, sein
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