Stille Wasser
Klang, sein beständiges Rauschen, übte eine ungemein beruhigende Wirkung auf mich aus und klärte meinen Verstand, wenn ich nach nächtelangem Forschen und Arbeiten wie ausgebrannt war.«
Tiefe Furchen erschienen auf seiner Stirn, als er in den sonnendurchfluteten Tag hinausblickte und doch nichts von all dem wahrzunehmen schien, was um ihn herum geschah.
»Sie ging am Meeresufer spazieren, ihre Füße spielten mit dem Schaum der Wellen. Ich liebte sie vom ersten Augenblick an, wie in einem von diesen Songs, und sie, glaube ich, empfand für mich ebenso.«
»Und?«
»Natürlich wusste ich um ihr Geheimnis. Wie ich bereits sagte, mein Steckenpferd war von jeher die Beschäftigung mit Mythen und alten Legenden – und zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits mehr über Selkies als irgendeiner dieser so genannten Gelehrten. Doch es war mir egal. Und ihr war es auch egal. Dachte ich damals zumindest. Sie legte ihre Seehund-Gestalt ab, um meine Frau zu werden und ihr Leben fortan mit mir zu teilen.«
»Aber sie wurden nicht glücklich miteinander.«
»Fünf Jahre währte unser Glück. Dann verließ sie mich, ohne ein Wort, ohne jede Erklärung, und kehrte wieder ins Meer zurück. Ihr Treuegelöbnis war ihr ebenso gleichgültig wie unsere Liebe. Sie hat einen kompletten Narren aus mir gemacht. Aber damals wollte ich das nicht einsehen. Ich machte mich auf die Suche nach ihr, doch sie blieb verschwunden.«
Dr. Lee schwieg eine Weile, dann wandte er sich zum ersten Mal, seit er seine Geschichte begonnen hatte, wieder Cordelia zu. Sein Gesicht war wie versteinert, doch in seinem Blick spiegelte sich unendliches Leid. »Ohne jeden Grund, ohne jede Warnung. Plötzlich war alles in meinem Leben völlig 123
bedeutungslos geworden. Und heute würde mir niemand glauben, dass ich damals vor lauter Kummer beinahe den Verstand verloren hätte, bevor es mir gelang, meine gequälte Seele zum Schweigen zu bringen.«
Erneut blickte er Cordelia an, diesmal mit einem Gesichtsausdruck, als rechnete er halb damit, dass sie jeden Augenblick losbrüllen und nach irgendwelchen Wärtern rufen würde. »Der letzte Verrat – eine zu fantastische Geschichte für eine junge Dame, um sie zu verstehen?«
Cordelia rang sich ein verkrampftes Lachen ab. »Glauben Sie mir, sie ist nichts im Vergleich zu dem, was hier in der Gegend sonst so alles geschieht! Und, na ja, was diese Sache mit dem Verrat anbelangt, ich weiß genau, was Sie meinen.«
»Dann können Sie mich also verstehen.« Dr. Lee lehnte sich vor und es fehlte nicht viel, da hätte er ihre Hand ergriffen.
»Meine hebe Ms. Chase, ich weiß, dass ein Selkie in dieser Stadt Unterschlupf gefunden hat, genauer gesagt, bei diesem jungen Mädchen, Willow, die zweifelsohne ein außerordentlich großes Herz hat; zudem findet sie bei den anderen wahrscheinlich reichlich Unterstützung. Was nicht eben verwunderlich ist; Selkies können über die Maßen niedlich und bezaubernd sein, wenn sie es darauf anlegen. Doch ein Selkie ist kein Mensch, Ms. Chase. Es denkt nicht wie wir, handelt nicht wie wir. Es ist dazu nicht in der Lage. Das Zerstören einer menschlichen Existenz, vieler menschlicher Existenzen...
Ich habe noch nicht herausgefunden, ob sie einfach nur ein grausames Spiel mit uns spielen, indem sie uns erst grenzenloses Glück versprechen, um uns anschließend umso tiefer in Verzweiflung zu stürzen, oder ob ihr Verhalten lediglich dem unergründlichen Plan der Natur folgt. Doch so oder so, ich werde nicht eher ruhen, bis ich sicher bin, dass niemals mehr ein Mensch von diesen seelenlosen Kreaturen lebenslangem Elend ausgesetzt wird.«
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Cordelia sank immer mehr in sich zusammen. »Ich, äh, sicher. Das ist wirklich sehr tapfer von Ihnen.« Sie hatte das Gefühl, am Rande einer hohen Klippe zu stehen und langsam, aber sicher die Balance zu verlieren. Auf der einen Seite war da Ariel. Entzückend und völlig hilflos. Nicht gerade das, was man in einer Stadt, in der Vampire und Dämonen die nächtlichen Straßen unsicher machten, als größere Bedrohung bezeichnen würde. Auf der anderen Seite schien Dr. Lee von dem, was er behauptete, felsenfest überzeugt zu sein. Und es hatte sogar einigermaßen plausibel geklungen. Man brauchte sich nur Angel anzusehen. Er sah super aus und war trotzdem ein Vampir. Nicht allen Wesen der Finsternis stand ihre üble Natur ins Gesicht geschrieben.
»Ich möchte Sie warnen, Ms. Chase, Ihre Freunde befinden sich in großer Gefahr. Sie sind dem
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