Stille Wasser
ganz einfach, den Gestank von Eisensulfid aus trockenem Pergament wieder herauszubekommen.
»Na schön, jetzt kommt... irgendwas«, murmelte Willow und kletterte auf den Tisch.
Barfuß, das T-Shirt aus dem Rockbund gerupft, stand sie da.
Direkt neben dem Tisch hatte sich Giles aufgebaut, ebenfalls barfuß und mit aufgeknöpftem Hemd. Sein Jackett hatte er 154
abgelegt. Zwar musste dieser Teil des Rituals, folgte man den Anweisungen des Zauberbuchs, eigentlich im Adam- und Evakostüm, sprich splitterfasernackt, vollzogen werden, doch Giles hatte den Passus kurz entschlossen großzügiger interpretiert. Ein etwas legerer Look schien ihm ein durchaus annehmbarer Kompromiss zu sein.
Oz und Xander zogen sich in die hintere Ecke zurück. Nicht, dass sie sich gern aus dem Staub gemacht hätten, doch es war überhaupt nicht einzusehen, warum sie sich mehr in Gefahr begeben sollten als unbedingt erforderlich. Willow warf Giles einen letzten Blick zu, dann hob sie ihre Hände, die Innenflächen nach oben gerichtet, und begann zu intonieren:
»Ich beschwöre deine wahre Gestalt.«
Eine Hand fuhr herum und ließ einen Schwall grobkörniger Salzkristalle auf Ariels Haupt niederprasseln. Neugierig versuchte das Selkie aufzublicken, doch Giles packte blitzschnell sein Kinn und zwang es, geradeaus zu sehen.
»Ich reinige deine wahre Gestalt.«
Die zweite Hand kippte und entließ eine Kaskade fluoreszierenden Pulvers, das sich, glitzernd und funkelnd, in Ariels Haar und Wimpern verfing.
»Ich befreie deine wahre Gestalt.«
Willow führte beide Hände zusammen, ließ sie langsam niedersinken und massierte die Ingredienzien mit sanftem Druck in Ariels Kopfhaut ein. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf den weiteren Wortlaut des Beschwörungszaubers. Stumm bewegte sie ihre Lippen, während sie sich die nächsten Zeilen des modifizierten Verwandlungsspruchs in Erinnerung rief.
Leises Winseln drang aus Ariels Kehle, doch Giles ließ in seinem Griff nicht locker. Ihre Haut begann unter den Berührungen von Willow zu zucken, deren Handflächen ein undeutliches Glimmen entströmte, das sich über Ariels 155
Schultern ergoss und auf ihrem Seehundfell erneut zu sammeln schien.
»Es funktioniert...«, flüsterte Oz. Xander nickte nur und rümpfte missbilligend die Nase, als der beständige Strom der hauseigenen Belüftungsanlage etwas von dem magischen Pulver zu ihm hinüberwehte.
»Aegir, sieh auf Dein Kind mit Wohlgefallen.«
»Aegir, sieh auf Dein Kind in Liebe.«
»Löse die Fesseln, die von Menschen gemacht.«
»Entlasse sie in –“
»Haaa-tschiii!«
Willow quiekte, Oz zuckte zusammen und Ariel sprang vom Tisch direkt in Giles’ Arme. Die merkwürdig glimmende Aura zerplatzte wie eine Seifenblase und beide, Wächter wie Selkie, fielen der Länge nach hintenüber und landeten unter lautem Getöse und Schmerzensschreien auf dem harten gekachelten Fußboden.
Xander, die Hand noch vor seinem zutiefst beleidigten Riechorgan, bekam einen hochroten Kopf, was ihn nicht eben attraktiver aussehen ließ. »Sorry.«
»Xander!«, platzte Willow heraus und wirbelte herum. Die Rückstände der magischen Substanz zauberten ein blasses Schimmern auf ihre Handflächen. »Wir hätten es fast geschafft! Beim nächsten Mal, das schwör ich dir...«
»Willow, lass es gut sein«, unterbrach sie Giles vom Boden aus. »Zumindest wissen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.« Ächzend kam er wieder auf die Beine. »Ariel? Bist du okay? Äh... follain?«
Das Selkie kauerte am Boden und beschnupperte ängstlich sein Fell. Es hob den Kopf, blickte den Wächter aus sorgenvollen Augen an und sagte etwas auf Gälisch, das Willows bescheidenen Kenntnissen nach so viel bedeutete wie:
»Es hat nicht funktioniert.«
156
»Beinahe, Kleines. Beinahe. Das nächste Mal«, fuhr er fort, indem er sich an Willow wandte, »sollten wir in Erwägung ziehen, Meersalz anstelle von herkömmlichem zu benutzen.«
Willow seufzte. »Ja. Wir haben beide nicht daran gedacht.
Ich schätze, im Bioladen werden wir –“
»Giles!«
Oz’ Aufschrei brach jäh ab, als er zu Boden geschleudert wurde. Das Ding, das ihn angegriffen hatte, war etwa doppelt so groß wie er, bei annähernd gleicher Masse; drahtig und dürr, erinnerte es beinahe an einen zu groß geratenen Aal und sein ganzer Körper schien fast ausschließlich aus Sehnen und stromlinienförmigen Muskelsträngen zu bestehen. Dennoch wirkten seine Bewegungen eher schwerfällig, als
Weitere Kostenlose Bücher