Stiller Zorn: Roman (German Edition)
Schlafsaal mit etwa zwanzig Betten. Dann durch eine weitere Tür – allesamt abgeschlossen – und einen langen Gang mit lauter Türen zu beiden Seiten, alle mit einem kleinen Glasfenster. Die Schwester blieb etwa auf halber Höhe stehen und steckte einen Schlüssel in eins der Türschlösser.
»Da wären wir«, sagte sie. »Erschrecken Sie nicht zu sehr. Es fällt einem schwer, ich weiß. Beim ersten Mal ist das immer so.«
Sie öffnete die Tür.
Auf dem Bett, das in dem Zimmer stand, lag eine Frau, die mit ängstlich aufgerissenen Augen zur Decke starrte. Alle paar Sekunden schrie sie auf – ein stummer Schrei – und warf sich gegen die Bande, mit denen sie ans Bett gefesselt war. Ihre gekrümmten Finger griffen ununterbrochen in die Luft, wie die Beine eines Käfers, der auf dem Rücken liegt.
Ich hatte Corene Davis gefunden.
13
Meine Gedanken überschlugen sich, als ich über den Brückendamm zurückfuhr, kochten und brodelten wie die Wolken da oben, aus denen nach wie vor heftiger Regen fiel. Ich hatte das Gefühl, als ob der jahrelang angestaute Hass, all die Ängste und die Wut von mir abfielen, fast wie ein warmer Regen, und ich wusste, dass ich das Corene zu verdanken hatte, ihrem Anblick da drin in dieser geschlossenen Anstalt. Und was konnte ich für sie tun?
Eins hatte ich auf keinen Fall vor – Blackie und Au Lait erzählen, wo sie sich aufhielt und was passiert war. Vielleicht sollte ich mich nach ihren Leuten in New York erkundigen und mit denen reden, vertraulich. Corene brauchte Freunde, keine Gefolgsleute.
Der Ruhm, der Druck, das fehlende Privatleben – was war es gewesen, das ihr das angetan hatte? Oder hatte es einfach von Anfang an in ihr dringesteckt, unterschwellig, auf der Lauer? Vermutlich wusste das keiner. Vielleicht würde es auch nie jemand erfahren. Ich versuchte nachzuvollziehen, was zwischen New York und New Orleans passiert sein könnte, reimte mir eine Geschichte zusammen, einen Plan, den Ausgang. Stellte mir vor, wie sie in New York in die Maschine gestiegen war, genau wusste, was sie vorhatte, einen Koffer zwischen den Füßen, der alles enthielt, was sie fortan brauchte. Allem Anschein nach hatte sie aus freien Stücken gehandelt. Aber wusste sie wirklich, was sie wollte? Oder war sie von Sinnen?
Letzten Endes, nehme ich an, lief es in etwa auf das Gleiche raus wie bei uns allen – wir stoppeln uns unser Leben aus Stückwerk zusammen, hier ein Zitat aus einem Buch, dort ein Songtitel oder eine Textzeile, ein Spruch von jemand, den wir mal kannten, dazu allerlei Filmausschnitte, machen uns ein Bild von uns und gestalten unser Leben dementsprechend, suchen uns dann was Neues und danach wieder was, wurschteln uns durch, improvisieren Tag für Tag, Jahr um Jahr, ein ganzes sogenanntes Leben lang.
Ich gab’s auf und schaute einfach zu, wie die Wischerblätter den Regen von der Windschutzscheibe fegten. Alle zwei Meilen kam eine Parkbucht, an der man anhalten und Hilfe rufen konnte. Ansonsten war nicht viel zu sehen, außer Wasser, Wolken und Regen.
Ich dachte an Harry. An Papa und an Janie, meine Frau, mit der ich knapp über zwei Jahre verheiratet war, und an meinen Sohn. Einen Moment lang, als ein Blitz über den Himmel zuckte und in der Ferne Donner grollte, sah ich wieder alles aus Corenes Sicht, so wie in einem kurzen Geistesblitz in der Klinik – sah das Wechselspiel von Hell und Dunkel an der Decke und brachte doch kein Wort hervor, konnte nicht ausdrücken, was ich sah, was ich fühlte, was mir fehlte. Ich aber musste mir, ganz im Gegensatz zu Corene, nur ein neues Leben vorstellen und mich dahinterklemmen.
Im Büro lagen die üblichen Nachrichten von unten und ein Haufen Post. Ein gelber Umschlag ragte aus allem andern raus. Ich nahm ihn und riss ihn auf.
VATER HEUTE UM FÜNF GESTORBEN STOP BEERDIGUNG AM FREITAG UM ZEHN STOP RUF MICH AN STOP ALLES LIEBE MUTTER
Ich saß eine Zeitlang da, ohne mich zu rühren, dachte daran, wie es einst gewesen war – an all die Erwartungen und Enttäuschungen, die Streitereien und Vorhaltungen, die Auseinandersetzungen, die mit der Zeit immer schlimmer geworden waren. Aber es gab auch schöne Erinnerungen, und nach einer Weile fielen auch die mir wieder ein. Wie Papa und ich hinten auf dem Hof an meinem ersten Auto, einem alten, zerbeulten Ford Coupé, rumgebastelt hatten. Wie wir da oben auf dem Berg, hoch über der Stadt, wo wir Jagd auf Eichhörnchen und Kaninchen machten, gemeinsam gefrühstückt hatten, zugesehen
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