Stiller Zorn: Roman (German Edition)
hatten, wie der Tag anbrach, und wie er jedes Mal nachdenklich und schweigsam geworden war, wenn wir alte Musketenkugeln aus dem Bürgerkrieg fanden. Als er eines Abends seine alte Trompete rausgeholt und zum ersten Mal für mich den Blues geblasen hatte, als mir klar geworden war, dass er mir was voraushatte, ein eigenes Leben geführt hatte, vor meiner Zeit – und dass der Schmerz, den ich durchlitt, zum Leben gehörte.
Ich zündete mir eine Zigarette an. LaVerne hatte Geld, ich hatte Zeit. Ich brauchte bloß Blackie anzurufen und ihm Bescheid zu sagen, dass ich Corene nicht finden konnte, und damit hatte sich die Sache. Damit wäre ich wieder frei, könnte tun und lassen, was ich wollte. Danach wollte ich Mama anrufen.
Ich rauchte die Zigarette auf und griff zum Telefon.
Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Die Nacht war genauso schwarz wie ich.
Zweiter Teil
1970
1
New Orleans schmorte vor sich hin. Seit zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet, und tagsüber stieg das Thermometer auf bis zu dreiundvierzig Grad. Die Kids auf der Straße drehten die Feuerhydranten auf – vermutlich hatten sie das in den Nachrichten gesehen –, und in den älteren Stadtvierteln reichte das Wasser nicht mal mehr für die Klospülung. Außerdem streikte die Müllabfuhr, und sämtliche Fliegen aus ganz Nordamerika waren anscheinend gen Süden gezogen.
Ich saß in meinem neuen, klimatisierten Büro in Downtown und las in Pinktoes , einem Buch, das vor ein paar Jahren bei Olympia Press erschienen war. Ich hatte es in dem die ganze Nacht über geöffneten Zeitungsladen an der Royal, Ecke Canal Street gefunden, wo es zwischen allerlei Jungmädchenillustrierten gesteckt hatte. Es erinnerte mich an die zwei Jahre, die ich auf der Louisiana State University in New Orleans zugebracht hatte, vor allem aber erinnerte es mich an Black No More .
Nicht dass mir die Klimaanlage etwas nützte. In der Stadt war der Strom knapp, und der Bürgermeister sagte, wir müssten uns alle einschränken, verantwortungsbewusst sein. Jawollja. Aber ich fragte mich, wie das Thermostat des Bürgermeisters eingestellt war.
Ich war vor zwei Tagen von einem Abstecher nach Arkansas zurückgekehrt. Mama kam ziemlich gut zurecht – natürlich hatte sie inzwischen halbwegs Zeit gehabt, um drüber wegzukommen, sich drauf einzustellen. Wahrscheinlich war sie so gut drauf eingestellt, wie es nur ging. Meine Schwester Francy war bei ihr eingezogen, und anscheinend kamen sie zur Abwechslung mal ganz gut miteinander aus. Mama hatte ein paar Pfund zugelegt, Francy ging mit einem amtlich zugelassenen Wirtschaftsprüfer. Alles sah wieder ganz vielversprechend aus.
Und hier war ich, bereit fürs Geschäft, nachdem sich während meiner Abwesenheit meine Sekretärin, die ich als Teilzeitkraft auf der Sekretärinnenschule eine Straße weiter angeheuert hatte, um die Post gekümmert hatte. Ich hatte fünf-, sechstausend auf der Bank liegen, ein gedecktes Girokonto, ein, zwei Kreditkarten und einen neuen VW, der gerade abbezahlt war. Vor etwa ein, zwei Monaten war ich droben beim Kleinen gewesen. Jetzt brauchte ich nur noch ein paar Aufträge.
Ich stellte das Radio an und erfuhr, dass wir dreiunddreißig Grad hatten. Ich schaltete es aus. Derlei Nachrichten brauchte ich nicht. Der Schweiß tropfte mir bereits vom Hemdkragen und sammelte sich in meinem Kreuz. Und das schon bevor ich wusste, wie heiß es war.
Ich schaute auf meine Uhr. Viertel nach zehn. Kühler würde es mit Sicherheit nicht werden.
Ich nahm mir die Times-Picayune von gestern vor und überflog sie. In sämtlichen Schlagzeilen ging es um die Hitzewelle, die Stromausfälle oder irgendeine Reise des Präsidenten, aber dann, ein bisschen weiter unten, kamen auch die üblichen Einbrüche, Vergewaltigungen und Morde, die die Welt in Schwung halten. Prima Stadt, dieses New Orleans. Ich war schon anderswo gewesen. Es war nach wie vor meine Lieblingsstadt. Man darf mich bloß nicht fragen, warum.
Ich nahm mir wieder das Buch vor, versenkte mich darin wie ein Alligator, Schnauze und Augen knapp über dem Wasser, und verschlang die Geschichte von der Harlemer Pensionswirtin Mamie Mason, dem Negerführer Wallace Wright (»ein Vierundsechzigstel Negerblut«), dem schwarzen Journalisten Moe Miller, der sowohl »die Negerfrage« als auch sein Haus im Stich lassen muss, als sich eine Ratte (die die Angewohnheit hat, die Fallen zu umgehen, die er aufstellt, so dass er sich selber die Zehen drin bricht) dort
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