Stiller Zorn: Roman (German Edition)
ein bisschen schüchtern. Ein braves Mädchen. Hatte nie viele Freunde, nicht so wie die andern. Hat immer allerhand gelesen, schon solang ich mich entsinnen kann. Schwärmt fürs Kino.«
»Sie ist unser Ein und Alles, Mister Griffin«, sagte die Frau.
Wenn die Ruhigen erst mal loslegen, dachte ich. Ich schüttelte den Kopf, damit ich wieder klar denken konnte. Die Frau redete immer noch.
»– so gehofft, dass sie aufs College geht, damit was aus ihr wird. Haben unser ganzes Leben lang dafür gespart. Geknausert und gespart und uns nichts gegönnt. Und jetzt –« Sie stockte. Er schaute sie an, als ob er etwas sagen wollte, tat es aber nicht.
»Wie sieht sie aus?«, fragte ich.
»Na ja«, sagte er. »Sie ist ein hübsches Mädchen. Etwa, ich weiß nicht recht, eins dreiundsechzig groß. Die wachsen schnell, wissen Sie.«
»Hat kurze Haare, vorne Ponyfransen«, fügte seine Frau hinzu.
»Ich nehme an, Sie haben ein Bild von ihr?«
Er griff in seine Brieftasche und reichte mir einen Schnappschuss.
Sie war hübsch, hatte große, lebhafte Augen und einen schmalen, ernst wirkenden Mund. Auf dem Bild trug sie Jeans und einen hellrosa Pulli. Sie sah einem Mädchen ähnlich, das ich einst zu Hause gekannt hatte.
»Wie hat sie – wie kleidet sie sich? So ähnlich?«
Beide nickten.
»Und Sie sagen, sie ist schon mal in New Orleans gewesen. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo sie sich am liebsten aufgehalten haben könnte, ob sie irgendwas besonders mochte?«
Diesmal schüttelten sie beide den Kopf.
»Wie schon gesagt, sie tut nicht – sie redet nicht viel«, sagte Clayson.
»Wissen Sie, ob sie irgendwelche Freunde in der Stadt hat?«
»Sie hat mal von einem Mädchen namens Willona erzählt. Eine Schauspielerin, wenn Ihnen das was nützt.«
»Was für eine Schauspielerin?«
»Wir wissen bloß, dass sie Schauspielerin ist.«
»Wissen Sie, wo sie wohnt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Schaun sie«, sagte ich, »ich werde mein Bestes tun, aber allzu viel Hoffnung kann ich Ihnen nicht machen. Das ist eine große, dreckige Stadt. Hier kann man viel zu leicht untertauchen – genau wie in den Bayous und Sümpfen außen rum. Und keiner kümmert sich groß um irgendeinen von uns, geschweige denn um ein sechzehnjähriges Mädchen aus Clarksdale. Wo wohnt ihr denn, solange ihr in der Stadt seid?«
»Bei meinem Bruder an der Jackson Avenue«, sagte Clayson. Er nannte mir die Adresse, und ich schrieb sie mir auf. Der Nummer nach zu schließen nahe dem Uferdamm und dem New Orleans General. »Dort hat’s kein – gibt’s kein Telefon«, sagte er.
»Okay, dann melde ich mich. Es gibt ein paar Sachen, die ich überprüfen kann. Vielleicht springt irgendwas dabei raus. Ich sag Ihnen Bescheid.«
Sie wandten sich um und gingen zur Tür. Sie wirkten jetzt eher noch müder, und ich fragte mich einen Moment lang, ob sie all das durchstehen würden und wie.
Ich schaute mir noch mal den Schnappschuss an und sprach ein stilles Gebet – für Mr und Mrs Clayson.
2
Auf der Uhr an der Bank Ecke Carrolton Avenue, Freret Street, stand die Temperatur: 38 Grad. Ich schaute rüber zu den Palmen, die die Straßenbahngleise auf dem Mittelstreifen säumten. Die Palmen sahen aus, als ob sie sich ganz heimisch fühlten.
Ich fuhr raus zu Milt und ließ ein paar Abzüge von dem Schnappschuss machen, nahm dann die Claiborne Avenue zurück nach Downtown.
Don war nicht an seinem Schreibtisch. Ein Bürohengst ging ihn suchen, und zehn Minuten später schwebte er ein, die Hemdsärmel hochgerollt und schmutzfängergroße Schweißflecken unter den Armen. Sein Fertigbinder lag auf dem Schreibtisch wie ein Museumsstück.
»Schon von Eddie Gonzalez gehört?«, sagte er, als er sich hinsetzte. »Ist endgültig eingefahren. Hat im Green Door Koks vertickt.«
Er lehnte sich zurück und atmete tief aus.
»Du hast drei Minuten Zeit«, sagte er.
»Zwei brauch ich jetzt, die dritte heb ich mir für später auf. Ich hab ein Bild. Ich möchte, dass du es unter deinen Männern rumgehn lässt.«
Ich sah seinen argwöhnischen Blick. »Irgendwas, über das ich Bescheid wissen sollte?«
»Bloß ein Kid, das von seinen Eltern gesucht wird.«
»Die Vermisstenabteilung ist den Gang runter links, Lew.«
»Einen Gefallen, Don.«
»Sind in letzter Zeit ziemlich viele gewesen.«
»Ich hab’s kapiert.«
»Okay, okay, wird gemacht. Ist das alles?«
Ich reichte ihm die Abzüge. »Das ist alles. Danke, Don.«
»Genau.« Und schon war er wieder weg.
Ich
Weitere Kostenlose Bücher