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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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schau, ich kann’s dir doch leihen, okay?«
    »Lass das, Verne. Außerdem steck ich mitten in einem Fall.« Ich fragte mich allmählich, warum ich sie überhaupt angerufen hatte. Aber wen sonst? »Ich ruf heut Abend an und erkundige mich, was los ist. Und morgen melde ich mich wieder. Halt die Ohren steif.«
    »Du auch, Lew. Du weißt ja, wo du mich erreichen kannst. Tschüss.«
    »Yeah.«
    Ich legte auf und schaute wieder zu der leeren Flasche. Vielleicht war Joe’s heute Abend genau das Richtige. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Acht, neun Uhr, das war womöglich die beste Zeit für einen Anruf. Vielleicht wussten sie bis dahin irgendwas. Vielleicht wussten sie schon jetzt irgendwas.
    Ich warf die Briefe von der Bank in den Papierkorb und machte mich auf die Socken.
    Als ich auf die Straße kam, war mein Auto weg.

3
    Nachdem ich die Karre unten am Fluss ausgelöst hatte – machte 47,50 Dollar, in bar zu bezahlen, aber ich konnte ihnen einen faulen Scheck andrehen; außerdem musste ich vor Verlassen des Geländes das 64er Nummernschild anbringen, das ich auf dem Rücksitz liegen hatte –, fuhr ich zu Joe’s.
    Es liegt fast an der Decatur Street, aber wenn man nicht weiß, wo man danach suchen muss, findet man’s nie. Sämtliche Bedienungen sind Professionelle; sie zogen von Bar zu Bar, quer durch ganz Downtown, bis sie irgendwann bei Joe’s landeten und hier hängen blieben wie Rentner, die sich auf ihre alten Tage in Florida niederlassen.
    Ich hockte mich an die Bar, und Betty brachte mir einen doppelten Bourbon. Ich saß da, rauchte und kippte ein Glas nach dem andern runter. Der Aschenbecher war voll, und die Flasche, aus der Betty mir einschenkte, ging rasch zur Neige, als Joe reinkam. Er wollte wissen, was für Chancen die Saints hätten. Ich sagte es ihm. Is nicht wahr, sagte er.
    Etliche Straßenmädchen kamen rein, warfen mir einen kurzen Blick zu und zogen weiter. Betty erzählte mir, dass es in letzter Zeit immer Ärger gab, wenn sie ihre Kinder sehen wollte.
    »Was gibt’s sonst noch?«, fragte ich sie irgendwann.
    »Ich versuch anständig zu bleiben, aber die Leute lassen mich nicht«, sagte sie.
    Darauf läuft’s in etwa raus, dachte ich.
    Um neun ging ich zu dem Telefon an der Ecke und ließ mich mit dem Baptist Hospital in Memphis verbinden, Privatgespräch für Mrs Arthur Griffin, Rechnung ans Büro. Ich wurde an etliche Vermittlungen weitergeleitet und bekam schließlich einen Mann an die Strippe, der sich mit »Intensivstation, fünfter Stock« meldete.
    »Mrs Arthur Griffin«, sagte die Vermittlung.
    »Einen Moment. Sie dürfte bei ihrem Mann sein. Ich seh mal nach.«
    Danach war ein paar Minuten lang Stille. Ich schaute auf Joes rotierende Schlitz-Uhr über der Bar und sah zu, wie eine Minute nach der anderen verging. Endlich meldete sich jemand.
    »Lewis? Lewis, bist du das?«
    »Sprechen Sie«, sagte die Vermittlung.
    »Mama. Hör mal, was ist los?«
    »Es sieht schlecht aus, Lewis. Wo bist du gewesen? Ich versuch dich schon die ganze Woche zu erreichen. Es steht schlecht. Ein Herzanfall, Lewis. Er hatte einen Herzanfall. Einen schlimmen, sagen die Ärzte. Moment, nicht dass ich was Falsches sage.« Sie las es vermutlich von einem Blatt Papier ab. »Einen Myokardinfarkt.«
    Irgendwie hatte ich es gewusst. »Wie geht’s ihm?«
    »Es steht auf Messers Schneide, Lewis, auf Messers Schneide. Kritisch wird’s nach drei Tagen, sagen sie. Wenn er dann die nächsten drei Tage übersteht, sieht’s schon viel besser für ihn aus.«
    Die Verbindung war schlecht. Ich konnte andere, gedämpfte Stimmen in der Leitung hören.
    »Mama, hör mal, kann ich etwas tun? Irgendwas?«
    »Er fragt bloß nach dir, Lewis. Er möchte seinen einzigen Sohn sehen. Lewis, er weiß Bescheid. Er weiß, dass er stirbt. Er will dich vorher noch mal sehen.«
    Betty winkte mir von der Bar aus zu, wollte wissen, ob ich noch einen wollte. Ich nickte.
    »Ich schaff es nicht, Mama. Nicht jetzt. Ich bin an einem Fall dran. Aber wenn ich irgendwas tun kann, egal was …« Ich sprach nicht zu Ende. Selbstverständlich konnte ich nichts tun. Ich hatte das Gefühl, dass keiner irgendwas tun konnte. In weiter Ferne hörte ich jemand anders in der Leitung sagen: Nun denn, Harold, und wann kommst du heim?
    Betty brachte mir den nächsten Drink zum Telefon, und ich nahm einen tiefen Zug. Er ging runter wie eine Drahtbürste.
    »Lewis, du musst herkommen.«
    »Ich kann nicht, Mama. Bei dem Fall könnte es jederzeit einen

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