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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Durchbruch geben. Ich muss hierbleiben. Aber ich ruf wieder an – ich melde mich. Du kannst mich ja auf dem Laufenden halten.«
    »Die wollen ihn morgen operieren, Lewis. Sie haben vor, ihm eine Art Ballon ins Herz einzuführen, irgendwas, das ihm helfen soll. Ich hatte gehofft, du würdest hier sein.«
    »Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Nicht jetzt. Aber ich melde mich wieder.«
    »Dann geb ich dir die Durchwahl von hier«, sagte sie. »Irgendeiner ist immer da. Wenn so was passiert, freundet man sich schnell an. Es ist eins der Wartezimmer. Wir schlafen alle über Nacht hier. Jeder kümmert sich um den andern. Und du rufst an, hörst du? Du bist ja nie zu erreichen.«
    Sie las die Nummer vor, und ich trug sie in mein Notizbuch ein, kritzelte darunter: Papa. In der Leitung sagte jemand: Aber so lange kann ich nicht warten, ich muss bis morgen Bescheid wissen.
    »Ich rede später mit dir, Mama«, sagte ich und legte auf.
    Ich ging zur Bar und genehmigte mir drei Doppelte pur. Wie viele davon hatten Dylan Thomas umgebracht? Dann sammelte ich mein Wechselgeld ein, alles bis auf zwei Dollar, und zog weiter.

4
    »Kakerlaken«, sagte ich zu dem Barkeeper in einer Kaschemme im Irish Channel. Sein Name stand über der Brusttasche seines Hemds, aber derjenige, der in schwungvoller Kursivschrift das PAT aufgestickt hatte, hatte einen dicken Faden stehen lassen, der sich von der Ausbuchtung des P bis zum A zog, so dass es eher wie RAT aussah.
    Der Channel war einst eine ganze Zeitlang die wildeste Gegend in einer ohnehin als vogelwild verrufenen Stadt gewesen, ein Viertel, in dem es Kneipen gab, die Bucket of Blood, Blutkübel, hießen, Eindringlinge von außerhalb mit einem Ziegelsteinhagel eingedeckt, Polizisten kurzerhand umgebracht wurden. Wenn es regnete, was in New Orleans so gut wie immer der Fall ist, schoss das Wasser aus dem oben angrenzenden Garden District runter zu den armen Iren, die hier ihr Dasein fristeten. Daher vermutlich der Name.
    »Pfeif auf die Longs und die politischen Apparate, pfeif auf die Mafia, den Petroleum Club, die Kirche und den Stadtrat – die Kakerlaken sind die wahren Herren von New Orleans. Unser ganzer Stolz, unsre eigentliche raison d’être . Man sollte eine Statue von einer aufstellen, draußen auf dem Fluss, haushoch, damit sie jeder sehen kann.
    Anderswo, bei andern Leuten, verdrücken sich die Kakerlaken, wenn man das Licht einschaltet. Stimmt’s, oder hab ich recht? Aber hier nicht, Mann. Die Kakerlaken von New Orleans machen wahrscheinlich einen Hofknicks und stimmen ein, zwei Strophen von ›Swanee‹ an. Die sind nämlich die wahren Neger, die Kakerlaken mein ich, die einzig reine Rasse, die es womöglich noch gibt. Sie wissen doch, was bei dem ganzen Kuddelmuddel alles passiert ist.
    Und außerdem gibt’s die verdammten Viecher schon seit Ewigkeiten. Man hat Bernsteinklumpen gefunden, die zweihundertfünfzigtausend Jahre alt sind, und die Kakerlaken, die drin eingeschlossen sind, sehn genauso aus wie diejenigen, die sich in diesem Moment in Ihrem Badezimmer tummeln. Die müssen sich nicht anpassen, Mann. Die können von allem leben. Oder von gar nix.
    Die sind nicht totzukriegen, egal, was wir uns einfallen lassen, die federn das einfach ab. Herrgott noch mal, die können einen Monat lang vom Leim auf ’ner Briefmarke leben. Denen kann man den Kopf abschneiden, und sie leben weiter, als wär nix gewesen – sie verhungern bloß irgendwann.
    Und noch was andres. Hab ich in ’nem Buch entdeckt, das vor mindestens hundert Jahren rausgekommen ist. Galt seinerzeit als das Gegenmittel, auf das jeder zurückgegriffen hat. Man sollte den Kakerlaken einen Brief schreiben, steht in dem Buch, der etwa folgendermaßen lautet: ›Hallo, liebe Kakerlaken, ihr habt euch jetzt lang genug bei mir rumgetrieben. Wird Zeit, dass ihr mal meine Nachbarn behelligt, stimmt’s, Jungs?‹ Danach sollte man den Brief dort hinterlegen, wo die Viecher rumgewuselt sind. Aber erst müsste man ihn zusammenfalten, in einen Umschlag stecken und ordentlich zukleben, all den üblichen Scheiß, schreibt der Autor. Als ob die Kakerlaken erkennen würden, ob man was falsch gemacht, ihn vielleicht nicht richtig frankiert hat, oder was weiß ich. Und dann steht da: ›Außerdem sollte man klar und deutlich schreiben und auf eine ordentliche Interpunktion achten.‹«
    »Sie sind betrunken, Mister«, sagte der Barkeeper.
    »Genau das bin ich höchstwahrscheinlich«, sagte ich mit dem besten irischen

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