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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Jefferson und Franklin Street. Warum, wenn nicht hier, war keine der Straßen nach Sally Hemmings benannt, der Sklavin und Geliebten von Jefferson?
    Ich fuhr quer durch Algiers zurück, vorbei an Auffahrten voller Schrottautos, Ölfässern und ausrangierter Kühlschränke, vorbei an kleinen Läden, in denen teils Kirchen, teils Kautionsadvokaten untergekommen waren, an einer Kampfsportschule, einem äthiopischen Restaurant, einer mit Brettern vernagelten Blumenhandlung, an Sozialsiedlungen, die sich über zehn Querstraßen erstreckten, einem verwilderten Park und einem Bibelkolleg, bis ich auf die Socrates Street stieß.
    Nummer vier-null-acht lag am äußersten Ende, dort, wo einstmals alles angefangen hatte, in einem für New Orleans typischen, hochherrschaftlichen Altbau, der in den letzten zehn Jahren renoviert und (den Namensschildern an der Haustür nach zu urteilen) in drei Wohnungen unterteilt worden war. Auf einem der Schilder stand W. Percy, M. D. , auf einem andern R. Queneau. Auf dem dritten stand bloß B. S. Ich drückte auf den Klingelknopf daneben. Drückte dann noch mal. Nichts.
    Die Haustür war jedoch nicht verschlossen, und dahinter lag ein Foyer mit einer gut dreieinhalb Meter hohen Decke und einem Oberlicht aus Buntglas. Zwei der Wohnungen befanden sich links von einer verschnörkelten Wendeltreppe, die vermutlich zu einem darüberliegenden Foyer oder einer Galerie führte, wenn überhaupt wohin. Die dritte Wohnung lag rechts von der Treppe, und die Tür war ebenfalls unverschlossen. Ich ging rein.
    Ein schmaler Flur führte zu einer bestens ausgestatteten Küche am einen und einem Wohnzimmer, das mit einem seltsamen Sammelsurium aus Antiquitäten, Chrom und Glas eingerichtet war, am anderen Ende. In der einen Ecke befand sich eine Treppe, eine Art Leiter eher, über die ich nach oben in ein Schlafzimmer gelangte, in dem es nach jungen Frauen roch – Puder, Parfüm, Nagellackentferner, Gesichtscreme. Neben dem Bett waren etliche Klamotten am Boden verstreut. Auf dem Nachttisch lag eine Bibel. Ein Badezimmer und ein weiteres Schlafzimmer schlossen sich an.
    Ich ging zuerst zum Bett. Sie war am Leben, machte aber keinen Mucks – schwer bedröhnt, keinerlei Reaktion, als ich sie kniff, langsamer Blutrückfluss. Als ich der Meinung war, dass sie wieder werden würde, wandte ich mich dem Sessel zu, auf dem er saß. Aber für ihn konnte ich nichts mehr tun.
    Der Großteil von seinem Kopf war quer über die Wand verteilt. Die eine Hand war in den Schoß gefallen und dort liegen geblieben, die Waffe, ein Fünfundvierziger, lag am Boden, zwischen seinen Füßen. Es roch nach Urin, Kot, Blut und rohem Fleisch.
    An der gegenüberliegenden Wand stand ein Stativ mit einer Kamera, die immer noch lief. Ich rührte sie nicht an. Aber ich ging die Treppe runter zum Telefon im Wohnzimmer und rief im Präsidium an.
    »Walsh«, sagte ich.
    »Der Sergeant ist beim Chef. Kann ich –«
    »Holen Sie ihn.«
    »Ich kann doch nicht –«
    »Holen Sie ihn ran, sofort , sonst macht er Sie morgen zur Minna.«
    Kurzes Schweigen. »Darf ich ihm wenigstens sagen, wer ihn sprechen will?«
    »Lew Griffin.«
    Ich wartete eine geschlagene Minute lang.
    »Lew, was, zum Teufel, soll das?«
    »Socrates Nummer vier-null-acht«, sagte ich. »Unser guter Sanders hat endgültig den Abgang gemacht.«
    »Zwanzig Minuten«, sagte Don. »Hau bloß nicht ab.«

10
    Eine mit ungelenken Blockbuchstaben beschriftete Titelkarte wurde auf der Leinwand weggezogen, und dann stand Sanders da, hielt sie in einer Hand, deutete darauf wie ein Pantomime und hatte das Gesicht zu einem breiten Lächeln verzogen. Letzter Film stand dort.
    Er kehrte der Kamera den Rücken zu und ging langsam zu dem Sessel. Als er sich umdrehte und hinsetzte, hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. Er wirkte jetzt erschüttert, aber die Mimik war genauso übertrieben wie zuvor beim Lächeln. Er tat so, als wische er sich Tränen aus dem einen Auge, dann aus dem andern. Einen Moment lang ließ er den Kopf hängen, dann schüttelte er ihn ein paarmal bekümmert.
    Aber allmählich kam ihm eine Idee, und während er drüber nachdachte, kehrte das Lächeln langsam wieder, wirkte diesmal natürlicher, nicht so übertrieben … Er streckte den Arm aus, und wie durch einen Zaubertrick hatte er plötzlich einen Fünfundvierziger in der Hand. Er winkte mit der einen Hand zum Abschied und schob sich mit der anderen die Knarre in den lächelnden Mund.
    Und genau so hatte ich ihn

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