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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Bescheid.« Sie schaute zu dem gleichen Fenster, durch das Clayson gestarrt hatte. »Glaubst du, er hat gewusst, dass er sie umbringt? Mein Gott, er hat sie so geliebt – wie wenn er selber wieder ein Teenager wäre, weißt du?«
    »Ich weiß es nicht, Verne. Ich glaube es nicht.«
    »Hast du jemals jemanden so geliebt, Lew?«
    »Nein.«
    »Glaubst du, du wirst das jemals tun?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich auch nicht.«
    »Ich geh jetzt lieber. Ihre Eltern warten.«
    »Lew.« Sie wandte sich vom Fenster ab und schaute mich an. »Bleibst du heute über Nacht bei mir? Ich will heute Nacht nicht über mich nachdenken. Ich will nicht nachdenken über –« Sie bewegte den Mund, brachte aber kein Wort mehr raus.
    »Ich komm vorbei.«
    Sie nickte bloß. Irgendwas an ihrer Miene erinnerte mich daran, wie wir uns zum ersten Mal begegnet waren, wie wunderschön sie mir vorgekommen war, an all das, was ich in jener Nacht urplötzlich für sie empfunden hatte, dass ich alles getan hätte, damit sie glücklich war, sich sicher und geborgen fühlte – einfach alles. Auch wenn ich nicht mehr wusste, wie viel von dem Gefühl, das geblieben war, noch echt war, wie viel nur Erinnerung.

12
    Ich setzte die Claysons ab, die inzwischen wie versteinert waren, und sagte ihnen, dass es mir leidtäte.
    »Wir erwarten Ihre Rechnung, Mister Griffin«, sagte Mrs Clayson und reichte mir einen Fetzen Papier, auf dem ihre Adresse stand.
    Sie würden aber keine kriegen. Ich fuhr Richtung Uptown, hing meinen Gedanken nach. Der Regen hatte die meisten Fahrer von der Straße vertrieben; nur die guten und die Blödmänner waren übrig geblieben. Einer der Letzteren hatte gerade versucht, sich unter einer Straßenbahn durchzumogeln. Er schaffte es nicht.
    Ich dachte an all die Frauen, die ich geliebt oder zumindest zu lieben geglaubt hatte. Dachte daran, wie sich das am Anfang anfühlte, bis das Gefühl allmählich zur Neige ging, noch eine Weile nachklang, wie hohle Heuschreckenpanzer auf einem Baum, und dann eines Tages einfach nicht mehr da war.
    LaVerne empfing mich in einem Kleid, das unmöglich das gleiche sein konnte, das sie damals getragen hatte, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, aber genauso aussah. Sie sagte nichts. Auf dem Couchtisch standen eisgekühlter Scotch, ein Krug Martini, ein Teller mit Obst und Käse, eine runde Silberschale mit allerlei Nüssen.
    Ich deutete auf den Krug, und sie goss einen Schuss Martini in ein Glas voll Eis. Sie goss sich ebenfalls einen ein, ohne Eis, und dann saßen wir da – zwei einsame Menschen, die beisammen waren, solange es eben ging. Ich musste an ein Gedicht von Auden denken: »Kinder voll Angst vor der Nacht/Die nie glücklich oder gut waren«.
    Verne lehnte sich an mich und schloss die Augen.
    »Warum muss sich immer alles verändern, Lew? Als ich noch klein war, hat meine Mutter alle paar Monate einen andern Mann mit nach Hause gebracht – so oft war das gar nicht, aber mir kam’s so vor; du weißt ja, wie das ist, wenn man ein Kind ist –, und ich hab mich ständig gefragt, warum sie sich nicht einfach einen sucht, den sie mag, und die andern in Ruhe lässt. Bin nie auf die Idee gekommen, dass sie dabei nicht viel zu melden hatte. Dass die Welt nicht so war, wie sie wollte, so wie es jeder von uns will, bloß weil wir es unbedingt wollen.«
    Sie trank einen Schluck, und wir saßen eine Weile schweigend da, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt.
    »Ich bin früher oft Zug gefahren. Mama hat uns reingesetzt und dem Schaffner fünfzig Cent gegeben, damit er auf uns aufpasst. Und ich hab immer im letzten Wagen gesessen und zugesehn, wie alles vorbeizieht, all die Ortschaften und Menschen, die ich nie kennenlernen würde, wie sie für immer verschwunden sind – und so schnell.«
    Sie blickte zu mir auf.
    »Ich bin immer noch auf diesem Zug, Lew, bin’s immer gewesen. Hab zugesehen, wie die Menschen, die ich geliebt habe, verschwunden sind, für immer.«
    Sie schaute mir lange in die Augen und gab dann einen seltsam erstickten Ton von sich. Ich weiß nicht, ob sie einen Zug nachmachen wollte oder ob sie geschluchzt hat, aber ich streckte die Arme nach ihr aus, als der Sturm draußen abflaute.

Dritter Teil
    1984

1
    Licht – wie Fausthiebe traf es meine Augen.
    Ich stöhnte und versuchte die Arme zu bewegen. Jemand hatte Sandsäcke rangehängt, damit sie unten blieben. Ich war unglaublich durstig. Die Luft stank nach Alkohol, Vitaminkapseln und Urin. Rote Haare schwebten

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