Stiller Zorn: Roman (German Edition)
öfter die Gesichter unserer Eltern sehen, wenn wir in den Spiegel gucken.
Ich steuerte auf die St. Charles Avenue und rauf in den Garden District. Hier gibt es ganze Straßenzüge, in die man eintaucht wie in einen grünen Tunnel – voller Bäume, die rundum auf-und über einen hinwegwuchern, den Himmel verdecken. Es erinnert einen daran, wie viel in New Orleans reines Menschenwerk ist – dass es eine künstlich geschaffene Stadt ist, durch schiere Willenskraft und harte Arbeit dem Sumpfland abgerungen, im Lauf der Geschichte ständig von äußeren Feinden, dem Fluss und dem dunklen Schlund des Sumpfes bedrängt. Der New Basin Canal, der die Unabhängigkeit der Amerikaner von den Kreolen garantieren sollte, wurde in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Pickel und Schaufel ausgehoben (Dynamit gab es nicht, und gegen das Sickerwasser aus dem Sumpf musste man mühsam mit Pumpen wie zu Archimedes’ Zeiten angehen), was über eine Million Dollar und mindestens achttausend Menschenleben kostete. Hundert Jahre später wurde er auf Beschluss der Stadtverwaltung von New Orleans wieder zugeschüttet.
Es war, als ob sich das Bild der Stadt und die Art, wie sie diesem Bild entsprechen wollte, ständig änderten. Sie war eine spanische, französische, italienische, karibische, afrikanische und kolonial-amerikanische Stadt; sie war vor allem eine Stadt des Vergnügens und der Illusion, oder in erster Linie eine kulturelle Bastion in einem neuen Land; sie war eine Stadt, die auf dem Rücken von Sklaven gebaut war, in der zugleich aber auch viele bedeutende Bürger gens de couleur libre waren, freigelassene Sklaven. Eine Stadt, die sich ewig anpasste.
Ich parkte an der Jackson Avenue und fand die gesuchte Adresse hinter einer Reihe von Wohnhäusern: ehemalige Sklavenunterkünfte, die durch ein schmales Zimmer, kaum breiter als ein Gehsteig, mit einer ehemaligen Garage verbunden waren.
»Ich suche Familie Clayson«, sagte ich zu dem Mann, der die Tür öffnete.
»Sind Sie Mister Griffin?«
»Ja.«
»Kommen Sie bitte rein.« Er gab die Tür frei.
Mr und Mrs Clayson standen von einem verschlissenen Zweisitzer auf und stellten mich Claysons Bruder und der Freundin des Bruders vor. Die Freundin kannte ich vom Sehen, ein Straßenmädchen, das auf impotente Männer und harte Nummern mit anderen Frauen spezialisiert war. Ich fragte mich, ob das hier für sie ein Zuhause war.
So behutsam, wie ich konnte, berichtete ich ihnen von Cordelia und fragte, ob sie mit mir kommen wollten. Mrs Clayson schloss die Augen und murmelte etwas vor sich hin, vermutlich ein Gebet. Mr Clayson schaute zur Wand, als ob er gerade jeden Glauben verloren hätte, den er sich bislang bewahrt hatte. Sie standen auf, und wir gingen raus in den beginnenden Regen.
Als wir zum Hotel Dieu kamen, goss es in Strömen. Ich ließ sie vor dem Haupteingang raus, sagte ihnen, dass sie dort auf mich warten sollten, und parkte das Auto. Nach sechs Schritten war ich durchgeweicht.
Wir fuhren mit dem Aufzug nach oben. Ich ließ sie im Familienaufenthaltsraum zurück und ging durch die Doppeltür zum Schwesternzimmer. Der Arzt, mit dem ich zuvor gesprochen hatte, blickte von einem Packen Diagramme auf, kam dann kopfschüttelnd auf mich zu.
»Sie ist von uns gegangen. Erst vor ein paar Minuten. Es war letztlich das Herz. Es hat die Belastung nicht mehr ausgehalten, so dass es zu einem Stillstand kam.« Er streckte die geballte Faust aus, öffnete sie langsam. »Soll ich mit den Eltern des Mädchens sprechen?«
»Ich sag’s ihnen, Doktor – es sei denn, sie fragen mich irgendwas, das ich nicht weiß. Sind Sie da?«
»Ich bin da.«
»Besten Dank.«
»Ich habe nicht viel getan, Mister Griffin.«
Ich ging durch die Doppeltür zurück, nahm die Claysons mit raus auf den Flur und sagte, was ich sagen musste, stand dann da und wartete, während sie schwiegen.
»Ich bringe Sie nach Hause, wann immer Sie so weit sind«, sagte ich schließlich.
Mrs Clayson schaute ihren Mann an, der durch das Fenster auf den Regen starrte. Wir hörten das Gewitter, das rundum losbrach.
»Ich glaub, wir sind jetzt so weit, Mister Griffin«, sagte sie.
Ich wollte hinter ihnen in den Fahrstuhl steigen, als der andere aufging.
»Gehen Sie beide schon vor. Ich komme gleich runter«, sagte ich.
LaVerne war gerade aus dem anderen Fahrstuhl gestiegen. Wir warteten, bis sie weg waren.
»Sie ist tot, nicht wahr, Lew?«
Ich nickte. »Alles Weitere weißt du?«
»Ich weiß
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