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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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bisschen wacklig, aber ich kurbelte das Fenster runter, ließ mir auf der Fahrt zu ihrer Wohnung den Wind ins Gesicht wehen und wurde wenigstens wieder halbwegs nüchtern.
    Eng umschlungen lagen wir in ihrem Bett, zwei übereinandergestapelten Matratzen, und schliefen bald darauf ein.

8
    Ich wachte auf und fühlte mich wie die Einlegesohle in einem fremden Schuh.
    Auf der Uhr, die am Fußboden neben dem Bett stand, war es 9 : 43. In der Küche gab es Kaffee, leise Musik und dazu eine Notiz, auf der »Danke, Lew« stand. Außerdem war im Herd das Frühstück warm gestellt.
    Ein Kreuz und ein herzförmiges Medaillon hingen einträchtig an einem Magnethaken am Kühlschrank.
    Ich trank die Kanne Kaffee aus, konnte kein Essen sehen, sondern kippte es ins Klo und spülte es runter, damit sie nichts davon merkte. Ich stellte mich unter die Dusche und wusch den sauren Whiskeygeruch, ihr Parfüm und zumindest ein bisschen was von meiner Schlappheit und Scham ab.
    Um elf war ich im Büro. Auf dem Anrufbeantworter waren drei Nachrichten. Eine stammte von Nancy und lautete: Ich wünschte, es gäbe keine Vergangenheit, bloß die Gegenwart und eine Zukunft. Die zweite war von Francy, die mir mitteilte, dass Mama krank war und an einer sogenannten akuten Depression litt. Die letzte stammte von Sanders. Kommen Sie raus nach Algiers, sagte er, Socrates Nummer vier-null-acht.
    Ich wollte gerade zur Tür, als das Telefon klingelte.
    »Lew?«, sagte LaVerne, als ich mich meldete. »Lass von Bud Sanders ab. Bitte.«
    Ich sagte eine Weile gar nichts. »Ich weiß nicht, wo das herkommt, ich weiß nicht, was das heißen soll.«
    »Musst du auch nicht. Scheiße, musst du denn alles verstehn ?« Ich hörte Eiswürfel in einem Glas klirren. »Derzeit stürzt alles auf ihn ein, und ich weiß nicht, wie viel er noch aushalten kann.«
    »Willst du mir etwa klarmachen, dass er ein Kunde ist?«
    »Nein.« Wieder das Eis. »Ich will dir klarmachen, dass er ein Freund ist. Seit langem schon.«
    »So wie ich.«
    »Ganz recht.«
    »Und du weißt, womit er sein Geld verdient?«
    »Genauso wie ich weiß, wie ich mein Geld verdiene. Wie du dein Geld verdienst. Wie wir alle, auf die eine oder andere Art.« Sie trank wieder einen Schluck. »Wir sind keine Engel, Lew. Engel kriegen hier unten keine Luft. Sie würden sterben.«
    »Stimmt. Aber ich brauche ein paar Auskünfte, Verne.«
    »Die gibt er dir bestimmt. Aber Lew –«
    »Ja?«
    »Ich glaube, er’s verliebt. Ich weiß nicht, ob er von ihr lassen kann. Geh sacht mit ihm um, versuch ihn zu verstehn.«
    »Deinetwegen?«
    »Is doch egal.« Wieder klirrte das Eis im Glas. »Ich bin betrunken, Lew. Ich kann mir das nicht leisten, das is eins von meinen Stammlokalen.«
    »Ich komm vorbei und hol dich ab, Verne.«
    »Nein, ich werd schon wieder. Muss bloß zu Kaffee übergehn und ’ne Weile sitzen bleiben. Halt du dich ran. Aber Lew?«
    »Ja.«
    Sie schwieg ein paar Sekunden lang.
    »Alles is so beschissen, Lew, so vermurkst. Es muss doch nicht so sein.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich ihr. »Ich versuch da schon ’ne ganze Weile dahinterzusteigen.«
    »Das hat noch keiner geschafft. Wird auch keiner.«
    »Bist du sicher, dass du klarkommst?«
    »Yeah. Ja, mir fehlt nichts weiter. Sei vorsichtig, Lew. Auch wenn das nicht deine Stärke is.«
    »Ich versuch’s.«
    »Machen wir doch alle. Tschüss, Lew.«
    »Tschüss, Kleines.«
    Ich zog wieder los, kehrte dann um, setzte mich an den Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Ich hatte das Gefühl, als ob ich irgendwas verloren hätte, für immer verloren, und wusste nicht mal, was es war, konnte es nicht benennen. Das sind die schlimmsten Verluste, die wir einstecken müssen.

9
    In New Orleans betonen die Einheimischen grundsätzlich die erste Silbe und gestehen dem ganzen Wort nur zwei zu: So -kräts zum Beispiel. Weiß Gott, was wir aus Asklepios gemacht hätten. Die Socrates Street liegt in einem alten Wohnviertel, dessen Häuser in lauter kleine Apartments und allerlei verwinkelte Flure verhackstückt worden sind und das in jeder anderen Stadt ein Slum gewesen wäre. Aber hier bei uns leben dort bloß die armen Leute. Komischerweise waren anscheinend viele Schwarze darunter. Und natürlich waren sie nur deshalb arm (darauf lief die große amerikanische Märchengeschichte raus), weil sie es so wollten .
    Ich erwischte die falsche Abfahrt von der Mautstraße und landete drüben in Gretna, in einem Wirrwarr von Straßen namens Hancock, Madison,

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