Stiller
brauchen diese materielle Perfektion, weil sie in der Idee nie sauber sind, nie kompromißlos. Um nicht gröblich mißverstanden zu werden: nicht der politische Kompromiß, der die Demokratie ausmacht, ist das Bedenkliche, sondern der Umstand, daß die allermeisten Schweizer außerstande sind, an einem geistigen Kompromiß überhaupt noch zu leiden.Sie helfen sich, indem sie das Bedürfnis nach Größe schlechterdings verpönen. Ist es aber nicht so, daß der gewohnheitsmäßige und also billige Verzicht auf das Große (das Ganze, das Vollkommene, das Radikale) schließlich zur Impotenz sogar der Phantasie führt? Die Armut an Begeisterung, die allgemeine Unlust, die uns in diesem Land entgegenschlägt, sind doch wohl deutliche Symptome, wie nahe sie dieser Impotenz schon sind ...
»Bleiben wir bei der Architektur!« meint Sturzenegger.
Es folgt eine Unterhaltung über jenes Gebiet, das sie die Altstadt nennen. Die Idee, die Stadt der Vorfahren zu erhalten und als Reminiszenz zu pflegen, finde ich nobel. Und daneben, im geziemenden Abstand, baue man die Stadt unserer Zeit! In Tat und Wahrheit aber, soweit ich sehe, machen sie weder das eine noch das andere, sondern sanieren sich zwischen jeder Entscheidung hindurch. Architekten voll Talent und Heimatliebe bauen, wie ich neulich gesehen habe, Geschäftshäuser im ungefähren Maßstab des sechzehnten oder siebzehnten oder achtzehnten Jahrhunderts. Ein kniffliges Unterfangen! Zwar ist es möglich, Eisenbeton zu tarnen (wie eine Schande) mit Quadern aus Sandstein, mit Stichbogen und mit echten Erkerlein aus dem Mittelalter; doch ganz vereinen lassen sie sich nicht, scheint es, Pietät und Rendite, und was dabei herauskommt, ist ja wohl so, daß kein Negersoldat auf Urlaub derlei für Altes Europa hält. Halten sie es dafür? Die Gäßlein-Stadt ihrer Vorfahren schlechterdings niederzureißen, um Platz zu schaffen für ihre heutige Stadt, erschiene ihnen verrückt, verbrecherisch; es gäbe einen papiernen Sturm der Empörung. In Wirklichkeit machen sie etwas viel Verrückteres: sie verpfuschen die Stadt ihrer Vorfahren, ohne dafür eine neue, eine heutige, eine eigene zu bauen. Woher kommt es, daß solcher Schwachsinn, den man als Fremdling sofort sieht, die Einheimischen offenbar nicht erschreckt? Sturzenegger kann nichts für die Verballhornung ihrer Altstadt, hingegen zeigt er mir Fotos von seiner neuen Siedlung draußen bei Oerlikon, einem Vorort von Zürich, in der Welt bekannt durch seine Waffen-Export-Industrie; eine Siedlung im Maßstab einer vergangenen, und zwar endgültig vergangenen Zeit, eine Idyllik, die keine ist. Wie soll ich Sturzenegger erklären, woher mein Unbehagen kommt, wenn ich so etwas sehe? Es ist sehr geschmackvoll, sehr sauber, sehr seriös; aber Kulisse ringsherum. Und um nicht zu sagen, daß ich es zum Kotzen finde, frage ich sachlich, ob die Schweiz denn so unerschöpflich viel Land hat, um in diesem ›Stil‹ noch einige Jahrzehntebauen zu können. Das scheint nicht der Fall zu sein. Was heißt Tradition? Ich dächte: sich an die Aufgaben seiner Zeit wagen mit dem gleichen Mut, wie die Vorfahren ihn gegenüber ihrer Zeit hatten. Alles andere ist Imitation, Mumifikation, und wenn sie ihre Heimat noch für etwas Lebendiges halten, warum wehren sie sich nicht, wenn die Mumifikation sich als Heimatschutz ausgibt? ... Sturzenegger lacht:
»Wem sagst du das! Ich wettere seit Jahren – natürlich nicht öffentlich – dabei ist unsere Altstadt gar nicht der einzige Schildbürgerstreich, weißt du –«
Er schildert mir einige andere, die ich als Häftling nicht überprüfen kann. Sein auffallend eifriges Einverständnis (leider merke ich es erst nach einer ziemlichen Weile) gründet sich allerdings nicht auf eine Kongruenz unserer Gesinnung, sondern auf ein Ressentiment; Sturzenegger spöttelt über den Oberbaumeister ihres Städtchens, dem er anderseits, wie er zugibt, nicht unbeträchtliche Aufträge verdankt, und es ist nur sehr menschlich, daß er einem Fremdling gegenüber, der ihren Oberbaumeister nicht persönlich kennt, zu einer geradezu draufgängerischen Offenheit kommt, die ihm wohltut. Auf meiner Seite hinwiederum ist es menschlich, daß ich mich nicht für diese oder jene Persönlichkeit interessiere, sondern für die allgemeine Geisteslage des Landes, dessen Gefangener ich bin. Ich möchte das Wesen erkennen, das über mich richten wird; das ist wohl ein natürliches Bedürfnis. Es interessiert mich also, wenn wir über
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