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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Architektur reden, lediglich die Frage, wieweit es einem schweizerischen Städtebauer überhaupt möglich ist, kühn zu sein, zukünftig zu sein in einem Volk, das eigentlich, wie mir scheint, nicht die Zukunft will, sondern die Vergangenheit. Hat die Schweiz (so frage ich Sturzenegger) irgendein Ziel in die Zukunft hinaus? Zu bewahren, was man besitzt oder besessen hat, ist eine notwendige Aufgabe, doch nicht genug; um lebendig zu sein, braucht man ja auch ein Ziel in die Zukunft hinaus. Welches ist dieses Ziel, dieses Unerreichte, was die Schweiz kühn macht, was sie beseelt, dieses Zukünftige, was sie gegenwärtig macht? Sie sind sich einig in dem Wunsch, daß die Russen nicht kommen; aber darüber hinaus: Was ist, wenn ihnen die Russen erspart bleiben, ihr eigenes Ziel? Was wollen sie aus ihrem Land gestalten? Was soll entstehen aus dem Gewesenen? Was ist ihr Entwurf? Haben sie eine schöpferische Hoffnung? Ihre letzte große und wirklich lebendige Epoche (laut Vorträgen meines Verteidigers) war die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, die sogenannten Achtundvierziger-Jahre. Damals hattensie einen Entwurf. Damals wollten sie, was es zuvor noch nie gegeben hatte, und freuten sich auf das Morgen, das Übermorgen. Damals hatte die Schweiz eine geschichtliche Gegenwart. Hat sie das heute? Das Heimweh nach dem Vorgestern, das die meisten Menschen hierzulande bestimmt, ist bedrückend. Es zeigt sich (sofern unsere Gefängnisbibliothek repräsentativ ist, das heißt dem Geschmack der offiziellen Stiftungen entspricht) in der Literatur: die meisten und wohl auch besten Erzählungen entführen in die ländliche Idylle; das bäuerliche Leben erscheint als letztes Reduit der Innerlichkeit; die meisten Gedichte meiden jede Metaphorik, die der eigenen Erfahrungswelt des Städters entstammen würde, und wenn nicht mit Pferden gepflügt wird, liefert das Brot ihnen keine Poesie mehr; eine gewisse Wehmütigkeit, daß das neunzehnte Jahrhundert immer weiter zurückliegt, scheint die wesentlichste Aussage im schweizerischen Schrifttum zu sein. Und genau so die offizielle Architektur: wie zögernd und lustlos ändern sie den Maßstab ihrer wachsenden Städte, wie wehmütig, wie widerspenstig und halbbatzig. Einmal meint Sturzenegger: »Jaja, aber ganz praktisch gesprochen: als Architekt, was soll ich machen, wenn das Baugesetz nur drei Stockwerke zuläßt: Man muß gerecht sein –«
    Auf die Frage, wer denn ihre Baugesetze mache, antwortet er nicht, sondern schildert weiterhin die gesetzlichen Hindernisse, die einen modernen Städtebau platterdings verunmöglichen, und ich erfahre allerlei, was ich als Laie nicht wußte, jedoch keinerlei Antwort, warum sie die betreffenden Gesetze nicht ändern. Sturzenegger sagt nur: Wir sind eine Demokratie! Ich verstehe ihn nicht. Worin bestünde denn die Freiheit einer demokratischen Verfassung, wenn nicht eben darin, daß sie dem Volk immerfort das Recht gibt, seine Gesetze im demokratischen Sinn zu verändern, wenn es nötig ist, um sich in einem veränderten Zeitalter behaupten zu können? Es fragt sich nur, ob sie wollen. Ich verwahre mich gegen die gefährliche Meinung, daß Demokratie etwas sei, was sich nicht verwandeln kann, und gegen ihre andere Meinung, man bleibe frei wie die Väter, indem man nicht über die Väter hinauszugehen wagt. Was heißt realistisch? Sturzenegger sagt immer: Ideen, nun ja, das ist ja schön und recht, aber wir müssen doch realistisch sein. Was heißt das? Zwar gibt Sturzenegger, als wir über die romantische Zweistöckigkeit ihrer Siedlungen reden, aus fachmännischen Überlegungen durchaus zu, daß es immer weniger gelingen wird, im Stil des neunzehnten Jahrhunderts zu leben, und daß es der größte aller Schildbürgerstreiche ist, wie sie ihr knappes Land noch immermit solchen Siedlungen verdorfen; darum immer wieder meine blanke Frage: Was ist eure Idee hier? Die Geschichte wird nicht stehenbleiben, auch wenn die Schweizer es noch so wünschen. Wie wollt ihr, ohne einen neuen Weg zu gehen, ihr selber bleiben? Die Zukunft ist unvermeidlich. Wie also wollt ihr sie gestalten? Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat.
    Sein Lächeln ärgerte mich schon lange, bevor es zum Krach kam, seine Miene der fidelen Resignation; bleich vor Ernst, solange er sich über die Person ihres Oberbaumeisters ausließ, und im übrigen, sobald es bloß um Ideen ging, voll wurstiger Munterkeit einer unberührten Seele, das also war dieser Herr Sturzenegger, der

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