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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Architekt meines Staatsanwaltes, der Freund von Stiller.
    »Mein Lieber«, sagt er zum Schluß, seine Hand auf meine Schulter gelegt, lachend, »– du bist noch immer der alte!«
    Darauf schweige ich.
    »Immer etwas niederreißen!« fügt er hinzu: »Immer destruktiv! Wir kennen dich ja – du alter Nihilist!«
    Darauf nenne ich ihn rundheraus (der Ausdruck ist grob, doch fällt mir auch bei längerem Nachdenken kein anderer Ausdruck ein, wenn Leute wie dieser Herr Sturzenegger, Leute der fidelen Resignation, die kein Ziel mehr haben außer ihrer Bequemlichkeit, von Nihilismus reden, sobald jemand noch etwas will) ein Arschloch, und siehe da, er lacht weiter, er klopft mir nochmals auf die Schulter und hofft, daß man sich bald einmal »in unserer alten Pinte, du weißt ja!« treffen werde ... Dann, allein in meiner Zelle, sage ich noch mehrmals diesen einzigen Ausdruck. Typen wie dieser Sturzenegger (und wie mein Verteidiger) bringen mich um jeglichen Humor; das ist es, was ich ihnen verarge.
     
     
    Von Julika geträumt: – Sie sitzt in einem Boulevard-Café, vielleicht Champs-Elysées, mit Briefpapier und Füllfeder, Haltung eines Schulmädchens, das einen Aufsatz schreiben muß, ihr Blick bittet mich dringend, nicht zu glauben, was sie mir schreibt, denn sie schreibt es unter einem Zwang, ihr Blick bittet mich, sie von diesem Zwang zu erlösen ...
     
     
    Heute in der Klinik.
    Sibylle (die Gattin meines Staatsanwalts) ist eine Frau von schätzungsweise fünfunddreißig Jahren, schwarzhaarig mit blauen, sehr hellen und lebhaften Augen, in ihrem Mutterglück sehr schön, Jugend und Reife in einer Person. Frauen in diesem Zustand haben etwas wie eine Gloriole, die den Mann, den fremden, eher verlegen macht. Ihr Gesicht ist braun, und wenn sie lacht, sieht man einen Mund voll beneidenswerter Zähne, einen sehr kraftvollen Mund. Zum Glück war ihr Säugling nicht im Zimmer, ich kann mit Säuglingen ehrlicherweise nicht viel anfangen. Sie saß, als die Oberschwester mich durch die doppelte Polstertüre führte, in einem blauen Rohrsessel draußen auf dem Balkon. Ein zitronengelber Morgenrock (Fifth Avenue, New York) steht ihr vortrefflich. Sie richtete sich in ihrem Sessel etwas auf, nahm die finstere Sonnenbrille ab, und da die Oberschwester sich um eine größere Vase bemühen mußte, waren wir sofort unter vier Augen. Irgendwie fühlte ich mich mit meinen Blumen sehr komisch. Dazu setzte sie leider wieder ihre finstere Sonnenbrille auf, so daß ich ihren Blick nicht lesen konnte. Ihr Mann, mein Staatsanwalt, hatte mir netterweise zwanzig Franken gepumpt, so daß ich denn mit einem Arm voll langer, beim Gang über die Linol-Treppe wippender und in Seidenpapier tuschelnder Gladiolen vor der glücklichen Mutter erschienen war. Gott sei Dank dauerte es nicht lange, bis die Oberschwester mit einer etwas kitschigen, jedoch umfänglichen Vase zurückkam. Es war keine Kleinigkeit, die steifen Gladiolen einigermaßen zu büscheln. (Rosen wären mir viel lieber gewesen, nur fand ich sie in Anbetracht, daß ich das Geld von meinem Staatsanwalt pumpen mußte, doch zu teuer.) Es war Teezeit, die Oberschwester hatte keine Ahnung, daß ich geradenwegs aus dem Gefängnis kam, und fragte mich mit Beflissenheit erster Klasse, ob ich Semmelchen vorzöge oder Toast. Endlich waren wir wieder allein, diesmal ohne Aussicht auf baldige Unterbrechung.
    »Stiller«, sagte sie, »was machst du für Geschichten!«
    Ich bezog es auf die Gladiolen. Sie dagegen, zeigte sich, bezog es auf meine Weigerung, der verschollene Stiller zu sein. Sie entfernte ihre dunkle Sonnenbrille, und ich sah ihren hellen, auf eine liebevolle Weise gelassenen Blick. Auch wenn sie nun eben ein Kind von ihrem Gatten geboren hatte, war es doch eine verwirrende Vorstellung, von dieser Frau geliebt worden zu sein. Natürlich blieb ich bei meiner Weigerung. Ich saß ihr gegenüber, meinen linken Fuß über das rechte Knie gezogen, beide Hände um daslinke Knie, Blick in die alten Platanen des Parkes, während Sibylle mich musterte.
    »Du bist sehr schweigsam geworden«, meinte sie. »Wie geht es Julika?«
    Sie fragte ziemlich viel.
    »Warum bist du wieder zurückgekehrt?«
    Es war ein merkwürdiger Nachmittag, wir tranken immer wieder Tee, als er schon lau war, Toast und Semmelchen blieben unberührt; meine Schweigsamkeit (was hätte ich sagen sollen?) trieb sie ihrerseits zum Erzählen. Um sechs Uhr, und da gab es keinen Aufschub, mußte sie ihren Säugling

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