Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
stillen.
     
     
    Ich sehe jetzt ihren verschollenen Stiller schon ziemlich genau: – er ist wohl sehr feminin. Er hat das Gefühl, keinen Willen zu besitzen, und besitzt in einem gewissen Sinn viel zuviel, nämlich so wie er ihn einsetzt; er will nicht er selbst sein. Seine Persönlichkeit ist vage; daher ein Hang zu Radikalismen. Seine Intelligenz ist durchschnittlich, aber keineswegs geschult; er verläßt sich lieber auf Einfälle und vernachlässigt die Intelligenz; denn Intelligenz stellt vor Entscheidungen. Zuweilen macht er sich Vorwürfe, feige zu sein, dann fällt er Entscheidungen, die später nicht zu halten sind. Er ist ein Moralist wie fast alle Leute, die sich selbst nicht annehmen. Manchmal stellt er sich in unnötige Gefahren oder mitten in eine Todesgefahr, um sich zu zeigen, daß er ein Kämpfer sei. Er hat viel Phantasie. Er leidet an der klassischen Minderwertigkeitsangst aus übertriebener Anforderung an sich selbst, und sein Grundgefühl, etwas schuldig zu bleiben, hält er für seine Tiefe, mag sein, sogar für Religiosität. Er ist ein angenehmer Mensch, hat Charme und streitet nicht. Wenn es mit Charme nicht zu machen ist, zieht er sich zurück in seine Schwermut. Er möchte wahrhaftig sein. Das unstillbare Verlangen, wahrhaftig zu sein, kommt auch bei ihm aus einer besonderen Art von Verlogenheit; man ist dann mitunter wahrhaftig bis zum Exhibitionismus, um einen einzigen Punkt, den wunden, übergehen zu können mit dem Bewußtsein, besonders wahrhaftig zu sein, wahrhaftiger als andere Leute. Er weiß nicht, wo genau dieser Punkt liegt, dieses schwarze Loch, das dann immer wieder da ist, und hat Angst, auch wenn es nicht da ist. Er lebt stets in Erwartungen. Er liebt es, alles in der Schwebe zu lassen. Er gehört zu den Menschen, denen überall, wo sie sich befinden, zwanghaft einfällt, wie schön es jetzt auch anderswosein möchte. Er flieht das Hier-und-Jetzt zumindest innerlich. Er mag den Sommer nicht, überhaupt keinen Zustand der Gegenwärtigkeit, liebt den Herbst, die Dämmerung, die Melancholie, Vergänglichkeit ist sein Element. Frauen haben bei ihm leicht das Gefühl, verstanden zu werden. Er hat wenig Freunde unter Männern. Unter Männern kommt er sich nicht als Mann vor. Aber in seiner Grundangst, nicht zu genügen, hat er eigentlich auch Angst vor den Frauen. Er erobert mehr, als er zu halten vermag, und wenn die Partnerin einmal seine Grenze erspürt hat, verliert er jeden Mut; er ist nicht bereit, nicht imstande, geliebt zu werden als der Mensch, der er ist, und daher vernachlässigt er unwillkürlich jede Frau, die ihn wahrhaft liebt, denn nähme er ihre Liebe wirklich ernst, so wäre er ja genötigt, infolgedessen sich selbst anzunehmen – davon ist er weit entfernt!
     
     
    Kaum ist man in diesem Land, so hat man schlechte Zähne. Und kaum melde ich meine Zahnschmerzen, so soll ich zum Zahnarzt von Herrn Stiller gebracht werden. Als gäbe es hier keine andern! Sein Name ist übrigens anhand einer nie bezahlten Rechnung, die mein Verteidiger in seinem Dossier umherträgt, alsbald ermittelt. Sofort wird angerufen. Zum Glück (und zum sichtlichen Bedauern meines Verteidigers) stellt sich heraus, daß dieser Zahnarzt vor kurzem verstorben ist. Ich werde bei seinem Nachfolger angemeldet – also bei einem Mann, der Stiller nie gesehen hat und nicht behaupten kann, er erkenne mich wieder.

Sechstes Heft
    Das Atelier des verschollenen Stiller – wie Frau Sibylle, die Gattin meines Staatsanwaltes, es schildert – muß ein großer, lichter Raum gewesen sein, ein Dachboden irgendwo in dieser Altstadt, ein Raum, der durch den Mangel an Möbeln, selbst an nützlichen, wo Sibylle etwa Hut und Tasche hätte ablegen können, wohl noch größer wirkte, als er war. Ihre Schätzung: zehn auf fünfzehn Meter! dürfte übertrieben sein, wie genau Sibylle sich im übrigen an dieses Atelier scheint erinnnern zu können. Man ging auf alten girrenden Tannenbrettern, die Äste hatten, dazwischen ausgetreten waren, und unter einer Dachschräge, wo sie mehr als einmal den Kopf angeschlagenhatte, muß es so etwas wie eine Küche gegeben haben, Schüttstein aus rotem Terrazzo, Gasherdchen, Schrank mit allerlei kunterbuntem Geschirr. Auch eine Couch war wohl da; denn Stiller wohnte ja im Atelier; ferner ein Büchergestell, wo Sibylle, Tochter aus bürgerlichem Haus, zum erstenmal das Kommunistische Manifest sah, daneben Tolstoi mit Anna Karenina, etwas von dem vielgenannten Karl Marx, dann

Weitere Kostenlose Bücher