Stiller
ist eine Summe von Reflexen auf eine abwesende Person, die mich nicht interessiert. Einmal versuche ich, es zu sagen; vergeblich. Denn für alles andere, was ich sozusagen auf meiner eigenen Wellenlänge sende, hat er einfach keine Antenne, scheint es, oder er stellt sie nicht ein; jedenfalls kommt es zu keinem Empfang, nur zu Störungen, die ihn nervös machen, so daß er in meiner Bibel blättert.
»Sag mal –« unterbricht er, »seit wann liest du denn die Bibel?« Sein Freund, so merke ich, war Atheist, dabei ein arger Moralist; wozu rechtfertigte sich Sturzenegger sonst, daß er in den letzten Jahren so großartig verdient hat? Ich habe keine Vorwürfe gemacht. Ein andermal, da ich schweige, sagt er:
»Jaja, mag sein, im Kommunismus steckt natürlich eine große Idee – aber die Wirklichkeit, mein Lieber, die Wirklichkeit!« Fast eine halbe Stunde lang schildert er mir die Sowjetunion, wie sie in den Zeitungen steht, in einem Ton der Belehrung, als schwärme ich für die Sowjetunion; ich sitze wie vor einem Radio, höre die Stimme eines Menschen, der in die Leere hinaus redet und den anderen Menschen, der ihn zufällig hört, nicht sehen kann. Woher soll er wissen, wen er anredet? Daher sind auch keine Einwände möglich, keine Winke, nicht einmal ein Zeichen gelegentlichen Einverständnisses. Sturzenegger redet, als ich mich erhebe, und redet, als ich an meinem Gitterfenster stehe, lange schon verstummt, Blick in die herbstbraune Kastanie. Sein verschollener Freund (Sturzenegger redet ja nur zu ihm!) scheint mir ein sehr naiver Kommunist gewesen zu sein, genauer: ein romantischer Sozialist, wofür die Kommunisten, fürchte ich, sich bedanken würden. Als einer, der die Sowjetunion nicht kennt, kann ich vor der Alternative, auf Stiller oder auf Kravchenko zu schwören, meinerseits nur die Achsel zucken; es überzeugen mich beide nicht.
»Übrigens – Sibylle erwartet ein Kind, das weißt du?« sagt Sturzenegger, um den Ton zu wechseln, und fügt hinzu: »Neulich traf ich Julika, sie sieht ja großartig aus!«
»Das finde ich auch.«
»Wer hätte das gedacht!« lacht er, »aber habe ich es nicht immer gesagt? Die stirbt nicht daran, wenn du sie verläßt, im Gegenteil, ich habe sie nie so gesund gesehen, geradezu blühend –«
Ich vernehme wieder allerlei.
»Erzähle einmal!« sagt er, »du bist ja um die halbe Welt gestrolcht, höre ich. Wie fühlst du dich denn wieder bei uns? Wir haben gebaut, mein Lieber. Hast du schon etwas gesehen?«
»Ja«, sage ich, »etwas.«
»Und was sagst du denn dazu?«
»Ich staune«, sage ich, aber Herr Sturzenegger, der Architekt, will es natürlich genau wissen, worüber ich staune. Und da er natürlich ein Lob erwartet, sage ich denn auch alles, was ich mit gutem Gewissen loben kann: wie sauber sie hierzulande bauen, wie sicher, wie schmuck, wie gediegen, wie seriös, wie makellos, wie gewissenhaft, wie geschmackvoll, wie gepflegt, wie gründlich, wie ernsthaft und so weiter, alles wie für die Ewigkeit. All dies gibt Sturzenegger zu, vermißt aber Begeisterung, und in der Tat, ich habe sie nicht. Ich wiederhole nochmals alle gebrauchten Beiwörter: schmuck, gepflegt, gewissenhaft, säuberlich, nett, putzig. Aber all dies, wie gesagt, geht unter den Begriff der materiellen Qualität, die ja eine schweizerische Eigenschaft ist. Ich sage: Qualität, ja, das ist das Wort, ich staune über die Qualität! Aber Sturzenegger will durchaus eine Begründung, warum ich, obzwar ich überall Qualität sehe, nicht begeistert bin. Nun ist es immer heikel, ein fremdes Volk zu deuten, und wenn man dann noch sein Gefangener ist! Sie selber, höre ich von Sturzenegger, nennen es Mäßigung, was mir auf die Nerven geht; überhaupt haben sie allerlei Wörter, um sich damit abzufinden, daß ihnen jede Größe fehlt. Ob es gut ist, daß sie sich damit abfinden, weiß ich nicht. Verzicht auf das Wagnis, einmal zur Gewöhnung geworden, bedeutet im geistigen Bezirk ja immer den Tod, eine gelinde und unmerkliche, dennoch unaufhaltsame Art von Tod, und in der Tat (soweit ich von meiner Zelle aus und auf Grund einiger Ausflüge urteilen darf) finde ich, daß die schweizerische Atmosphäre heute etwas Lebloses hat, etwas Geistloses in dem Sinn, wie ein Mensch stets geistlos wird, wenn er nicht mehr das Vollkommene will. Ihre offenkundige Sucht nach materieller Perfektion, wie sie sich in ihrer heutigen Architektur und auch sonst manifestiert, sehe ich als unbewußte Ersatzleistung; sie
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