Stiller
Hölderlin, Hemingway, auch Gide, und Sibylle schenkte dann ebenfalls noch das eine und andere, was zur Buntscheckigkeit dieser Bibliothek beitrug. Teppiche gab es wohl keine. Hingegen erinnert sich Sibylle an alle fünf Windungen eines langen Ofenrohrs, das sehr romantisch gewesen sein soll. Und das allerschönste: mit einem wackeren Schritt (als Dame mußte sie wohl den engen Rock etwas emporziehen) konnte man aufs Dach hinaustreten, auf eine Zinne mit rostigem Geländer, mit vermoostem Kies und Teer, der an den weißen Schuhen klebte, und abermals mit viel Romantik: mit gurrenden Tauben in der Dachrinne, mit Giebeln ringsum, mit Lukarnen und Kaminen und Brandmauern, mit Katzen, mit Höfen voll wilder Teppichklopferei, mit Geranien, mit flatternder Wäsche und Geläute vom Münster. Ein Lehnsessel, dereinst im Brockenhaus der Heilsarmee gekauft, war leider damals schon nicht mehr zu benutzen; das Tuch war morsch, und man setzte sich besser auf den Kehrichteimer, was für Sibylle, die Gattin meines Staatsanwaltes, offenbar gleichfalls von einem ganz besonderen Reiz war. Jedenfalls hat man den Eindruck, sie erinnere sich trotz allem nicht ungern an jenes Atelier. Drinnen gab es einen großväterlichen Schaukelstuhl, wo man sich wippen lassen konnte, was ja unweigerlich eine Stimmung des Übermuts, des gelassenen Übermuts erzeugt, und alles, was es hier gab, hatte für Sibylle, wenn sie aus ihrem ordentlichen Haushalt kam, den Zauber des Provisorischen. Der Schlauch am Wasserhahn war stets nur mit einer Schnur befestigt, ein Vorhang hing an Reißnägeln, dahinter stand ein alter Koffer mit schweren Scharnieren, jetzt als Wäschetruhe verwendet. Wohin man blickte, hatte man in diesem Atelier das erregende Gefühl, jederzeit aufbrechen und ein ganz anderes Leben beginnen zu können, also genau das Gefühl, das Sibylle damals brauchte.
Ihr erster Besuch war ein Überfall gewesen.
»Ich komme nur auf einen Sprung!« sagte sie und hätte selber nicht geglaubt, daß sie dann bis Mitternacht bleiben würde. »Ich muß doch einmal sehen, wo du eigentlich arbeitest und wohnst ...« Stiller war unrasiert, infolgedessen etwas verlegen. Er gab ihr einen Cinzano. Und während er sichhinter dem Vorhang am Schüttstein rasierte, guckte Sibylle sich an, was so an den Wänden hing: eine afrikanische Maske, das Bruchstück eines keltischen Beils, ein Bildnis von Josef Stalin (das später verschwand) und ein berühmtes Plakat von Toulouse-Lautrec, ferner zwei verblaßt-bunte Banderillas aus Spanien. »Was ist denn das?« fragte sie. »Das brauchen sie beim Stierkampf«, erklärte er kurz, nach wie vor mit seinem Bart beschäftigt. »Ach ja«, sagte Sibylle beiläufig, »du bist ja einmal in Spanien gewesen. Sturzenegger erzählte uns so eine tolle Geschichte von dir ...« Sie saß im Schaukelstuhl und lachte: »Du mit einem russischen Gewehr!« Seine Schweigsamkeit zeigte, daß sie ihn verletzt hatte, was ihr natürlich leid tat. »Sturzenegger ist ein Idiot«, sagte er hinter seinem Vorhang, »überall hausiert er mit dieser blöden Geschichte.« – »Ist sie denn nicht wahr?« – »Jedenfalls nicht so, wie Sturzenegger sie erzählt«, antwortete er mißmutig genug, so daß Sibylle sich nicht weiter nach der Geschichte mit dem russischen Gewehr erkundigte. Sie wollte ablenken, indem sie sagte: »Aber in Spanien bist du doch gewesen –« Sibylle ärgerte sich über sich selbst; man hätte wahrhaftig meinen können, sie wäre gekommen, um Stiller über Spanien auszuforschen ... Man hatte sich auf einem sogenannten Künstler-Maskenball kennengelernt, damals namenlos, infolgedessen frei von allerlei Hemmungen, man hatte Zärtlichkeiten ausgetauscht, und das war kaum drei Wochen her, Zärtlichkeiten, die später, da man sich in der Wirklichkeit begegnete, fast unglaubhaft erschienen, kaum anders als heimliche Erinnerungen an einen Traum, wovon der andere nichts weiß. Nachdem nämlich Sturzenegger, sein Freund, ihren Namen verraten hatte, war ein Wiedersehen schon aus Gründen der Neugier, wie das geküßte Gesicht ohne Larve aussehen würde, unvermeidbar gewesen; man hatte sich zu einem Apéritif getroffen; man hatte in der Folge davon, daß man sich ohne Larven noch viel mehr zu sagen hatte, einen Spaziergang gemacht, und das wiederum war kaum eine Woche her, auch dieser Spaziergang, scheint es, hatte zu Zärtlichkeiten geführt, die jetzt, da Sibylle in seinem Atelier stand, fast unglaublich erschienen, kaum anders als ihre
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