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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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behauptest du?« – »Es war ein Verrat«, beharrte Stiller, »da ist mit Liebe nichts zu ändern. Es war ein Versagen!« Sibylle ließ ihn sprechen, sich mit anderen und dann mit den gleichen Worten wiederholen, bis er neuerdings sein Glas füllte und trank. »Du hast noch nie mit jemand darüber gesprochen?« fragte sie, »auch mit deiner Frau nicht?« Stiller schüttelte kurz den Kopf. »Warum denn nicht?« fragte sie weiter, »du schämst dich vor ihr?« Stiller wich aus: »Wahrscheinlich kann eine Frau nicht verstehen, was das heißt. Ich war ein Feigling!« – Nun war die Flasche leer, eine Chianti-Liter-Flasche; Stiller wirkte gar nicht betrunken, er schien die Trinkerei gewöhnt zu sein. Ob diese Trinkerei nicht auch mit dieser Tajo-Geschichte zusammenhing?Natürlich ging es nicht an, daß Sibylle ihn jetzt einfach umarmte; Stiller wäre sich unverstanden vorgekommen wie alle Männer, wenn man ihrem Ernst einen anderen entgegensetzt, ja, Stiller schien es schon gespürt zu haben, daß Sibylle sich eigene Gedanken gestattete, und wiederholte mit apodiktischer Melancholie: »Es war ein Versagen.« – »Und du hast erwartet«, lächelte Sibylle, »daß du in deinem Leben nie versagen würdest?« Sie mußte sich genauer erklären: »Du schämst dich, daß du so bist, wie du bist. Wer verlangt von dir, daß du ein Kämpfer bist, ein Krieger, einer, der schießen kann? Du hast dich nicht bewährt, findest du, damals in Spanien. Wer bestreitet es! Aber vielleicht hast du dich als jemand bewähren wollen, der du gar nicht bist –« Darauf ging Stiller nicht ein, »Ich sagte es schon«, meinte er, »wahrscheinlich kann eine Frau das nicht verstehen.« Und Sibylle dachte: vielleicht besser, als es dir lieb ist. »Ihr Männer«, lachte sie nur, »warum wollt ihr immer so großartig sein! Nimm es mir nicht übel, aber –« Unwillkürlich faßte sie doch seine Hände, was Stiller, scheint es, mißverstand; jedenfalls blickte er sie mit einer heimlichen Geringschätzung an, dünkte sie, nicht unnett, aber Stiller nahm sie nicht ernst; er nahm sie als eine verliebte Person, die auf Zärtlichkeiten wartete und nichts weiter. Sie war ihm lästig, o ja. Er strich ihr übers Haar, der unverstandene Mann mit seiner Tragik, und nun konnte Sibylle, unter seiner zärtlichen Herablassung wie gefroren, überhaupt nichts mehr sagen. Stiller gefiel sich (so sagt sie) in seiner Verwundung; er wollte nicht damit fertig werden. Er verschanzte sich. Er wollte nicht geliebt werden. Er hatte Angst davor. »Nun weißt du’s«, schloß er und räumte die Gläser weg, »warum ich nicht geschossen habe. Wozu diese Anekdote! Ich bin kein Mann. Jahrelang habe ich noch davon geträumt: ich möchte schießen, aber es schießt nicht – ich brauche dir nicht zu sagen, was das heißt, es ist der typische Traum der Impotenz.« Dieser Ausspruch, den er drüben in der Küchennische gemacht hatte, kränkte Sibylle, und sie stand auf. Sie bereute, daß sie in sein Atelier gekommen war. Sie fühlte eine Traurigkeit, die sie verbarg, und gleichzeitig tat Stiller ihr leid. Warum wollte er nicht geliebt werden, nicht wirklich geliebt werden? Es blieb ihr nur noch, die Rolle zu spielen, die Stiller ihr aufzwang, und zu plaudern wie eine Neugierig-Verständnislos-Muntere, bis Stiller einmal hinausgehen mußte. Sie wollte Stiller nie wiedersehen.
    Als er aus dem Treppenhaus zurückkam, von dem unvermeidlichen Wasserrauschen begleitet, hatte Sibylle sich bereits gekämmt, ihre Lippenwaren mit frischem Rouge bemalt. Auch ihren Hut hatte sie bereits aufgesetzt. Stiller war baff. »Du gehst?« fragte er. »Es ist bald Mitternacht«, sagte sie und nahm auch ihre Handtasche. Stiller entgegnete nichts. »Dummer Mensch!« sagte sie plötzlich. »Wieso?« fragte er vom Schüttstein herüber, wo er die Hände wusch. »Weil du einfach ein dummer Mensch bist«, lachte Sibylle, »ich weiß nicht warum.« Stiller blickte sie unsicher an, trocknete sich die Hände. Sie wußten beide nicht, was nun das nächste Wort sein sollte, und Stiller trocknete weiterhin seine Hände. »Komm«, sagte Sibylle, »laß uns wegfahren.« – »Wohin?« – »Weg von hier!« sagte sie, »ich habe den Wagen unten, hoffentlich hat’s niemand gemerkt, ich glaube, ich habe ihn gar nicht abgeschlossen.« Stiller lächelte wie über ein naives Mädchen. Es war seinem Gesicht nicht anzusehen, was sein Entschluß bedeutete; jedenfalls öffnete er das kleine Küchenfenster, um den Rauch aus dem

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