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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Schimpferei dauerte noch fast eine halbe Stunde; Sibylle war froh darum, scheint es, wie um alles, was sie an diesem Mann befremdete und ernüchterte. »Kurz und gut«, sagte er gelegentlich, »da lagen wir also in diesem felsigen Tälchen, ich hatte Gefangene zu bewachen. Mehr trauten sie mir wohl nicht zu. Vorne ging es um den glorreichen Alcazar, weißt du, und ich stand in diesem heißen Tälchen, um Gefangene zu bewachen, kleine Gruppen. Zum Glück hatte ich damals Anja –« Stiller füllte wieder einmal sein Glas mit Chianti. »Wer ist Anja?« fragte sie, und wieder kam es nicht zur Fähre am Tajo, diesmal aber zu einem Exkurs, der Sibylle unmittelbar interessierte. »Anja«, sagte er, »das war meine erste Liebe. Eine Polin. Sie war unsere Ärztin, Studentin der Medizin, ich meine, sie arbeitete als Ärztin ...« Stiller trank, sein Glas in der rechten Hand, in der linken Hand eine lange schon erloschene Zigarette, so saß er und erzählte einiges von dieser Polin, er schilderte sie als eine Person, die ihm nicht durch Schönheit, aber sonst noch immer imponierte: ein klarer Verstand, dabei ein volles Temperament, etwas Tatarenblut, eine Kämpferin von Geburt, dabei ein Mensch mit Humor, was unter Revolutionären, wie Stiller erklärte, eine Rarität ist, Tochter aus gebildeter Familie, die erste Kommunistin in ihrer Familie, eine Samariterin, die selber unverwundbar zu sein schien, außerdem unwahrscheinlich begabt in Sprachen, Dolmetscherin für Spanisch, Russisch, Französisch, Englisch, Italienisch, Deutsch, wobei sie alles mit dem gleichen Akzent, jedoch mit fehlerloser Grammatik und beträchtlichem Wortschatz zu reden verstand, übrigens auch eine hinreißende Tänzerin. »– das war Anja«, brach er ab, »mich nannte sie bloß ihren deutschen Träumer.« Das schien für Stiller noch heute, nach seiner Miene zu schließen, eine bittere Pille zu sein, nach zehn Jahren noch nicht verdaut. »Liebte sie dich?« fragte Sibylle. »Nicht mich allein«, antwortete Stiller und erschrak nun plötzlich, »was ist denn eigentlich mit deinem Kaffee!« – »Vergessen!« lachte sie. »Vor lauter Wut über unsere Schweiz!« Stiller entschuldigte sich ausführlich. »Laß doch«, bat sie, »ich will gar keinen Kaffee!« – »Wein trinkst du auch nicht«, sagte Stiller, »was möchtest du denn?« – »Deine Geschichte mit dem russischen Gewehr!« antwortete sie, und Stiller, der sich wegen der Kaffeekochereischon erhoben hatte und stand, zuckte die Achsel. »Da ist nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Mein russisches Gewehr war tadellos, versteht sich, ich hätte bloß abdrücken müssen ...« Es folgte, dies als letzter Exkurs, eine ebenso sachliche wie überflüssige Schilderung der taktischen Lage, die Sibylle sowieso nicht begriff. »– nun ja«, brach er ab, »das Weitere hat dir Sturzenegger ja erzählt.« Unterdessen war es elf Uhr geworden, man hörte wieder den Glockenschlag, der Sibylle nun schon beinahe vertraut war. Sie begriff nicht, warum diese Geschichte für Stiller eine solche Last war, spürte nur, daß diese Stunde für ihn (so sagt sie) eine Beichte bedeutete, die übrigens nicht Sibylle, sondern Stiller selber gewollt hatte. »Ich begreife nicht«, sagte Sibylle endlich; doch Stiller unterbrach sie sogleich: »– warum ich nicht geschossen habe?« Das hatte Sibylle nicht gemeint. Er lachte: »Weil ich ein Versager bin. Ganz einfach! Ich bin kein Mann.« – »Weil du damals am Tajo nicht geschossen hast?« – »Es war ein Verrat«, sagte Stiller mit unduldsamer Entschiedenheit, »daran gibt es nichts zu deuten! Ich hatte einen Auftrag, ich hatte mich sogar darum beworben, ich hatte den Befehl, die Fähre zu bewachen, einen vollkommen klaren Befehl. Was weiter! Es ging nicht um mich, es ging um tausend andere, um eine Sache. Ich hatte zu schießen. Wozu war ich in Spanien? Es war ein Verrat«, schloß er, »eigentlich hätten sie mich an die Wand stellen sollen.« – »Davon verstehe ich zu wenig«, meinte Sibylle, »was sagte denn Anja dazu, deine Polin?« Darauf antwortete Stiller nicht sogleich, sondern schilderte, wie er sich später mit dem Schwindel, das Gewehr hätte nicht funktioniert, vor dem Kommissär herausgeschwatzt hatte. »Was Anja dazu sagte?« lächelte er nun, drehte eine Zigarette, bis fast kein Tabak mehr in der Hülle war, und zuckte die Achsel: »Nichts. Sie pflegte mich noch, bis ich die Heimreise antreten konnte. Sie verachtete mich.« – »Sie hat dich geliebt,

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