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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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unverhältnismäßig erschreckt. War es seine Frau gewesen? Sibylle hatte keinen Grund, sich seiner Frau nicht in aller Unbefangenheit vorzustellen. Lächerlich! Sibylle wünschte es geradezu, daß jetzt seine Frau eintreten würde. Oder war’s eine Geliebte, die da geklingelt hatte, so schrill, so hartnäckig geklingelt hatte? Seine Spachtel auf dem großen Tisch, die vollen Aschenbecher allenthalben, die Sibylle gerne geleert hätte, allerlei unbekanntes Werkzeug, die nicht gerade sauberen Küchentüchlein, Zeitungen überall, eine Krawatte an der Türe, all dies war sehr männlich, seine Bibliothekeher jünglingshaft, verglichen mit Rolfs akademischen Bücherwänden, und Josef Stalin nicht ganz so erschreckend wie sonst, immerhin fremd, nicht ihr Typ. Sibylle war froh um alles, was sie befremdete. Und fremder noch als Josef Stalin erschienen ihr (glaube ich) seine Skulpturen. Ob Stiller ein wirklicher Künstler war? Sie gab sich zu: in einer Ausstellung würde sie an solchen Sachen vorbeigehen. Sie zwang sich, nicht daran vorbeizugehen, sondern sich ein Urteil zu machen, das sie vor Liebe bewahrte. Das fiel ihr nicht schwer; sie liebte auch Picasso nicht, damals noch nicht. Und so ähnlich waren auch diese Dinger. Sibylle konnte sich nicht erinnern, seinen Namen je in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ gelesen zu haben; aber auch dann, wenn Stiller kein wirklicher Künstler war, bewahrte es sie denn davor, ihn zu lieben? Es lockte sie schon sehr, da und dort eine Schublade aufzuziehen; natürlich tat sie’s nicht. Statt dessen blätterte sie in einem Skizzenbuch, bestürzt im Gefühl, sich in einen Meister verliebt zu haben, nach seinen Skizzen zu schließen. Warum kam er übrigens so lange nicht? Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Eine Schublade, ohnehin schon beinahe offen, enthielt allerlei, doch keine Aufschlüsse über Stillers innerstes Wesen; es war so ein sympathischer, fast etwas bubenhafter Krimskrams: Muscheln, eine verstaubte Tabakpfeife, Sicherungen fürs Elektrische, Draht, Pfeifenputzer, die ihr kleiner Hannes so gerne gehabt hätte, und allerlei Münzen, Quittungen, Mahnungen, ein getrockneter Seestern, ein Schlüsselbund, so daß man an Blaubart hätte denken können, eine Glühbirne, ein Dienstbüchlein, Flickzeug fürs Velo, Schlafpulver, Kerzen, eine Gewehrpatrone, ferner ein altes, jedoch tadellos erhaltenes Messing-Schildchen mit der Aufschrift: Stiller-Tschudy ... Als Stiller eintrat, Papiersäcke im Arm, stand Sibylle gerade vor einem Akropolis-Photo mit schönen Gewitterwolken. »Bist du auch in Griechenland gewesen?« fragte sie. »Noch nicht!« antwortete er munter, »aber wir können hinfahren, jetzt sind die Grenzen ja wieder einmal offen.« Er hatte seine Büchsen-Krabben bekommen, auch Paprika, statt Kaninchen etwas Geflügel, Tomaten, Erbsen, Sardinen statt andrer kleiner Fische, und die Kocherei konnte beginnen. Sibylle durfte den Tisch decken, Gläser spülen, Teller wärmen. Auch den Salat mußte er selber zubereiten; Sibylle durfte nur kosten, begeistert sein und den Holzteller abwaschen. Als wieder das Telefon klingelte, nahm Stiller nicht ab, und eine Weile lang schien seine Munterkeit verloren zu sein. Als der valencianische Reis auf dem Tisch stand und duftete, wusch Stiller sich die Hände, trocknete sie mit männerhafter Gelassenheit,als wäre kein Anlaß zu festlicher Aufregung. Man setzte sich zum ersten gemeinsamen Mahl. »Wie schmeckt es?« fragte er, und Sibylle erhob sich, wischte sich den Mund und gab ihm den verdienten Kuß für seine männliche Kochkunst. (Rolf konnte sich nicht einmal ein Rührei machen!) Sie stießen an. »Also Prosit!« sagte er etwas verlegen. Es folgte ein sachliches Gespräch über den doch beträchtlichen Unterschied zwischen Büchsen-Krabben und frischen Krabben –
    Usw.
    Als es vom nahen Großmünster herab zehn Uhr schlug, laut genug, so daß Sibylle es nicht überhörte, war trotz aller Vorsätze an Aufbruch nicht zu denken – »Du darfst nicht vergessen«, sagte Stiller gerade, »ich war wahnsinnig jung. Eines Tages erwachst du und liest es in der Zeitung, was die Welt von dir erwartet. Die Welt! Genau besehen ist es natürlich nur ein freundlicher Snob, der das geschrieben hat. Aber plötzlich bist du eine Hoffnung! Und schon kommen die Arrivierten, um dir die Hand zu schütteln, weißt du, liebenswürdig, aus lauter Furcht wie vor einem jungen David. Es ist lächerlich. Aber da stehst du nun mit deinem Größenwahn – bis

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