Stiller
großen Fenster, zeigte ihr seinen breiten Rücken, beide Hände in den Hosentaschen wie immer die Zuschauer bei einer Feuersbrunst. Sie fand seinen Rücken so breit, seinen Kopf so rund und dick; sie schoß auf seine Ruhe: »Ich liebe ihn«, sagte sie ungefragt. »Wir lieben einander wirklich«, fügte sie hinzu, »sonst würden wir ja nicht zusammen nach Paris gehen, das wirst du mir glauben, ich bin ja nicht leichtsinnig.« Und dann müssen ja die Männer stets wieder an die Arbeit, jaja, es war schon zehn Minuten nach zwei; Sitzung, diese Bastion ihrer Unabkömmlichkeit, Sibylle kannte das. Wenn Rolf jetzt nicht an seine Arbeit geht, fällt die ganze Menschheit in einen Zustand verheerender Rechtlosigkeit. »Das mußt du schon selber wissen«, sagte er kurz, »was du für richtig hältst.« Und dann, nachdem er seinen Mantel angezogen hatte, wobei erdie Knöpfe in die falschen Löcher würgte, so daß die Gattin ihn zurechtknöpfen mußte, fügte er etwas melancholisch hinzu: »Du mußt tun, was du für richtig hältst!« und ging ... Und Sibylle, allein im Zimmer, heulte.
In diesem Sinn war Sibylle also frei.
Stiller hingegen kam unverrichteterdinge von Davos zurück, tat, als läge seine Balletteuse im Sterben, und eine Reise nach Paris kam selbstverständlich unter solchen Umständen nicht in Frage. Einmal mehr saßen sie an einem Waldrand – ringsum wurde bereits das reife Korn geschnitten, der Sommer verging, Gewitter türmten sich über dem blauen See, eine Hummel brummte ihren Zickzack durch die sommerliche Stille, über den Feldern zitterte die Bläue, aus den Gehöften gackerten die Hühner, und die Welt war eine tadellose, gelungene, erfreuliche, geradezu begeisternde Sache. Nur ihr Glück (oder was sie sich von ihrer Liebe versprachen) war sehr kompliziert! Stumm saßen sie auf der Erde, zwei Ehebrecher in zärtlicher Verflechtung ihrer Hände, jedes mit einem Halm zwischen den sorgenvoll-verbissenen Lippen, und das einzige in dieser Welt, was nicht kompliziert wäre, schien ihnen die Ehe zu sein, nicht die Ehe mit Rolf und nicht die Ehe mit Julika, aber die Ehe zwischen ihnen.
– – –
In den ganz und gar unbitteren Erinnerungen dieser trefflichen Frau – ich sehe sie natürlich die ganze Zeit, während ich hier schreibe, in ihrem blauen Rohrsessel wie neulich in der Klinik, als ich ihr die Gladiolen brachte, in ihrem zitronengelben Morgenrock zum schwarzen Haar – gibt es einen Punkt, der den verschollenen Stiller nicht wenig verblüffen möchte, die Tatsache nämlich, daß Sibylle in jenem Sommer oder Herbst, ohne Stiller jemals davon unterrichtet zu haben, ein Kind von ihm erwartet hat (nun wäre es sechs Jahre alt) ...
Ich protokolliere:
Es war im September, Stiller mit allerlei Umtrieben für eine Ausstellung sehr beschäftigt; wichtige Persönlichkeiten hielten es für angebracht, für unerläßlich, daß Stiller wieder einmal vor die Öffentlichkeit treten würde. »Störe ich?« fragte Sibylle, da Stiller, kaum hatte er sie mit einem fast schon gewohnheitsmäßigen Kuß begrüßt, an einem Sockel weitersägte. Sie schaute ihm zu. Nie ist ein Mann so schön, fand sie, wie bei einer handwerklichen Arbeit. »Ich will dich nicht aufhalten«, sagte sie, »aber ich mußte dich heute einfach sehen ...« Mehr verriet sie nicht, zumal es Stiller gar nicht wunderte, warum sie dieses Bedürfnis hatte. Wichtig waren jetzt dieSockel. »Wann kommt er denn«, fragte Sibylle, »dieser Herr von der Kunsthalle?« Sie versuchte sich zu interessieren. Draußen war es ein blauer und milder Septembertag. Mindestens neun Sockel mußten noch gezimmert, dann gestrichen oder lasiert werden, alles nicht so einfach; ein falscher Sockel kann sehr viel ausmachen, und was alles noch eine Lasur erhalten sollte, wogegen anderes, was glücklicherweise eine solche Lasur schon hatte, wieder davon befreit werden mußte! Darum ging es jetzt. »Und deine Frau«, fragte Sibylle, »stellst du sie auch aus?« Sie hatte Teewasser aufgesetzt, das nun kochte, und somit war auch sie beschäftigt. »Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte Sibylle, »ich habe gebacken!« Und sie zeigte ihm einen frischen Kuchen, einen sogenannten Gleichschwer; Stiller war gerührt, ohne hinzuschauen, und redete von Humbug. Sibylle konnte seinen Skulpturen keinen Unterschied ansehen; wieso waren sie plötzlich nur noch Humbug? Dabei lag der Brief eines Konservators vor, ein Hymnus auf Stiller, so daß man fast Angst bekommen mochte, Stiller
Weitere Kostenlose Bücher