Stiller
wofür sie ihm von Herzen dankbar war. Nach seiner Rückkehr war er ebenfalls (so sagt Sibylle) von einer bemerkenswerten Gefaßtheit.
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Das Liebesglück zu beschreiben, das Sibylle, die Gattin meines Staatsanwaltes, in den folgenden Wochen erlebte oder zu erleben hoffte, steht mir nicht an. Ob es so groß war, dieses Liebesglück, wie die beteiligten Gatten, Frau Julika Stiller-Tschudy einerseits, mein Freund und Staatsanwalt anderseits, in ihrer verschwiegenen Eifersucht vermuteten, scheint mir fraglich. Eine obdachlose Liebe, man kennt das, eine Liebe ohne Wohnung im Alltag, eine Liebe, die auf die Stunden der Verzückung angewiesen ist, man weiß ja, früher oder später ist es eine verzweifelte Sache, Umarmungen im hohen Korn oder im nächtlichen Wald, eine Zeitlang ist es romantisch, aufregend, dann lächerlich, eine Erniedrigung, eine Unmöglichkeit, die auch mit allem Aufwand gemeinsamen Humors nicht mehr zu retten ist, denn schließlich waren sie ja keine Gymnasiasten mehr, sondern zwei erwachsene Leute, ein Mann und eine Frau, beide schon einmal verheiratet ... Sibylle verstand (so sagt sie) seine Hemmungen, sie in seinem Atelier zu empfangen, wo ihn alles an seine kranke Julika erinnerte. Sie bedauerte es, denn sein großes und helles Atelier, wie gesagt, gefiel ihr sehr; aber sie verstand es. Was hätte Sibylle darum gegeben, eine gesunde Nebenbuhlerin zu haben, eine gleichwertige Frau, der man die Freundschaft oder den offenen Kampf antragen könnte, ja selbst eine Furie der Eifersucht, die überall in der Gesellschaft ihre moralischen Minen legt, oder eine Wirre mit lächerlichen Gasherd-Drohungen, eine wackere Närrin, die schnurstrackszum Gegen-Ehebruch schreitet, alles wäre Sibylle lieber gewesen als eine Kranke, die sich ins Sanatorium nach Davos entzog und die Gesunden jedenfalls ins Unrecht setzte, dazu eine Frau, die Sibylle nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, ein Gespenst! Aber so war es nun einmal, und sein Atelier kam also nicht in Frage. Was blieb ihnen, um sich zu treffen, anderes als Gottes freie Natur und ein paar Wirtschaften? Eine Regenwoche war für ihre Liebe katastrophal wie für andere Freilichtspiele und Sommernachtsträume; die Wirtschaften fingen an, sich zu wiederholen; die Wege rings um die Stadt fingen an, nirgendwohin zu führen; ihre Gespräche fingen an, melancholisch zu werden, witzig, aber melancholisch – mit einem Wort: so ging es nicht weiter ...
Dabei liebten sie einander wirklich.
»Komm«, sagte Sibylle eines Tages, »fahren wir nach Paris!« Stiller lächelte unsicher. »Ich komme von der Bank, mach dir keine Sorge«, sagte sie, »wir müssen nur nachsehen, wann ein Zug fährt.« Stiller bat die Kellner um einen Fahrplan. An Zügen nach Paris fehlte es nicht. Und einmal, im Juli etwa, brachten sie es tatsächlich bis auf den Bahnsteig, saßen auf der Bank unter der elektrischen Uhr, die Fahrkarten in der Tasche, ausgerüstet mit Zahnbürste und Paß. »Fahren wir oder fahren wir nicht?« fragte Stiller, als läge die Hemmung einzig und allein bei ihr, nicht bei ihm. Bereits ging der Schaffner von Wagen zu Wagen. »Einsteigen«, rief er, »einsteigen, bitte!« Stiller tat ihr leid. An seiner Entschlossenheit, ihre Wünsche endlich in die Tat umzusetzen, war nicht zu zweifeln, aber plötzlich hatte Sibylle alle echte Lust verloren; es störte sie das Verbissene an seiner Entschlossenheit. »Und Julika?« fragte sie. Unterdessen zuckte der Zeiger der elektrischen Uhr von Minute zu Minute. Im Grunde war Stiller (so sagt sie) doch froh, daß das Zögern wenigstens scheinbar von Sibylle kam, während er, ihr Gepäck in der Hand, die männliche Rücksichtslosigkeit in Person darstellte. Von Wagen zu Wagen wurden bereits die Türen geschlossen. Sibylle blieb sitzen, sie spürte so deutlich, daß das Gespenst schon drinnen saß, und Sibylle hatte keine Lust, mit einem Gespenst durch Paris zu gehen ... Der Zug fuhr; man blieb auf dem Bahnsteig zurück mit dem Beschluß, daß Stiller zuerst nach Davos fahren würde, um mit der kranken Julika in aller Offenheit zu reden, denn anders ging es ja nicht.
Im August fuhr Stiller nach Davos.
Ihrerseits fühlte Sibylle sich vollkommen frei, auch wenn ihr die bemerkenswerte Gefaßtheit ihres Mannes (so sagt sie) nachgerade auf die Nervenging. Bei jedem schwarzen Kaffee, sobald der kleine Hannes nicht dabei war, wartete sie auf die Auseinandersetzung. Vergeblich! Rolf sagte bloß: »Wenn du Donnerstagabend
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