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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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herbstlich. Die Sonne ist gerade noch so, daß man im Freien sitzen kann, wenigstens über Mittag. Wir sitzen in einer etwas putzigen Gartenwirtschaft, wo man aber einen weiten und erquickenden Ausblick hat, Weinlaub zu Häupten, vor sich ein paar schüttere Rebstöcke, dazwischen hinaus sieht man den See, sein Blinken unter einem versponnenen Licht, alles wie unter einem Schleier von blauem Rauch, auch die braunen Äcker und die Wälder mit ihrem lichterlohen Welken. Da und dort stehen die Leitern noch an den Bäumen, Körbe darunter. Es kommen Wespen sogar an unseren Campari. Das Gebirge, das den herbstlichen Dunst überragt, ist klar wie aus Glas und irgendwie entrückt; seine Schneehelle leuchtet hinter dem geisterhaften Gezweig laubloser Obstbäume, entrückt wie eine Monstranz hinter schwarzen Gittern.
    »Schön hier!« sage ich. »Sehr schön.«
    »Sie haben es nicht gekannt?«
    Wir essen vortrefflich.
    »Was trinken wir?« fragt mein Staatsanwalt und Freund. »Es gibt hier einen sehr ordentlichen Maienfelder, glaube ich.«
    »Gerne«, sage ich, »sehr gerne.«
    Ich kann nicht umhin, immer wieder die Landschaft zu betrachten, die hier ein beglückendes Gefälle zum See, einen Schwung ins Weite hat. Der herbstliche Dunst nimmt das Kleinliche der Übersiedelung, die nicht Stadt und nicht Dorf ist, für einmal weg; es bleiben die Hügel voll Wald, die sanften Mulden voll Acker, voll Moor, eine Landschaft, die mich beschäftigt, gerade indem sie mich nicht im mindesten überrascht. Ich kenne sie. Liebe ich sie?
    »Ich habe gehört«, sagt mein Staatsanwalt, »Ihre Freunde neulich waren etwas enttäuscht. Man fand Sie lieblos.«
    »Vielleicht bin ich’s.«
    »Warum?«
    Ich zucke die Achsel. Es geht mir mit ihnen wie mit dieser Landschaft, die in der Tat, wie fast jede Landschaft, aller Liebe wert wäre. Es muß an mir liegen ... Noch einmal ist alles da, die Wespen in der Flasche, dieSchatten im Kies, die goldene Stille der Vergängnis, alles wie verzaubert, die gackernden Hühner in der Wiese, das Gewimmel von braunen und überreifen Birnen, die auf der Landstraße liegen, die Astern, die über einen Eisenzaun hangen, Sterne eines blutigen Feuers, das ringsum verrinnt, die bläuliche Luft unter den Bäumen; es ist, als nehme alles Abschied von sich selbst; das rieselnde Laub einer Pappel, der metallische Hauch auf dem gefallenen Obst, der Rauch von den Feldern, wo sie Stauden verbrennen, und hinter einem Gitter von Reben glimmert der See; die Sonne verrostet schon im Dunste des mittleren Nachmittags, und dann der Heimweg ohne Mantel, die Hände in den Hosentaschen, das feuchte Laub, das nicht mehr rascheln will, die Gehöfte mit einer Trotte, die tropfenden Fässer in der Dämmerung, die roten Laternen an einer Schifflände im Nebel . . Das ist der Herbst hier, und ich sehe auch den Frühling. Ich sehe ein ziemlich junges Paar; sie stapfen querfeldein, und die Felder, vom Schmelzwasser getränkt, schmatzen unter ihren Schritten, weich, dunkel wie ein nasser Schwamm, Föhn geht darüberhin, und die Sonne gibt warm, sie gehen ganz den verlockenden Zufällen des Geländes entlang und stets in einem kameradschaftlichen Abstand, allenthalben riecht es nach verzetteltem Mist, es gurgeln die Quellen, sie kämmen das Gras der Böschungen, und die laublosen Wälder stehen voll märzlichem Himmel zwischen ihren Stämmen; zwei braune Ackergäule, die dampfen, ziehen den Pflug über gelassene Hügel, in schwarzen Schollen klafft die Erde nach Licht. Seltsames Wiedersehen nach Jahren! Sie plaudern über Lebensalter, jung wie sie sind, und wissen bereits: Für jedes Lebensalter, ausgenommen das kindliche, bedeutet die Zeit ein gelindes Entsetzen, und doch wäre jedes Lebensalter schön, je weniger wir verleugnen oder verträumen, was ihm zukommt, denn auch der Tod, der uns einmal zukommt, läßt sich ja nicht verleugnen, nicht verträumen, nicht aufschieben. Wieviel er plaudert, der junge Mann, von den zwei Zuständen seines Lebens, von Arbeiten und Büßen, wie er es nennt, und Arbeiten, das ist die Freude, das Fieber, die Erregung, da einer nicht schlafen kann vor Jubel, ein Schrei über Stunden und Tage hinweg, da einer vor sich selber davonlaufen möchte, das ist das Arbeiten, der Übermut, der Menschen gewinnt ohne Wollen, der niemand verpflichtet, nicht bindet und nicht fordert, nicht rechnet und geizt, Gebärde des Engels, der zum Nehmen keine Hände hat, das ist das Glück, das Arbeiten mit allem holden Größenwahn

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