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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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des Herzens, wo alles nur ein Nebenbei ist, alles nämlich, was sich mit Menschen begibt, eine Zugabe,eine heitere Vergeudung aus dem Überschuß der Freuden; später freilich zeigt es sich jedesmal, daß es das Höchste gewesen ist, was zwischen Menschen möglich wird, unerreichbar, sobald es zum Ziel wird, zum Bedürfnis, zur dringenden Hauptsache. Jedesmal dieser plötzliche Einbruch der Schwermut, die nicht kommt, weil Menschen gehen, im Gegenteil; die Menschen gehen ja nur, weil die Schwermut kommt, sie wittern es Wochen voraus wie Hunde das Erdbeben, das alles Erbaute immer wieder verschütten wird, Asche über allem, Schwermut über allem wie schwarze flatternde Vögel über den rauchenden Stätten gewesener Freude, Schatten der Angst, das ist das Büßen, der Nachhall im Zweifel, das Grauen der unfruchtbaren Einsamkeit. Wie gerne er plaudert, der junge Mann, und wie schön sie es trotzdem findet, die junge Frau! Mit silbernen Rändern schmilzt das Gewölk vor der Sonne, und Wäldchen heben sich inselhaft aus einem metallischen Gleißen, sie wandern über ein Ried, und einmal, beim Sprung über einen murmelnden Graben, steckt ihr Schuh plötzlich im zähen Morast; sie seiltänzelt mit einem bloßen Strumpf, die junge Frau, so daß der junge Mann sie halten muß. Sie küssen einander zum erstenmal. Hinter den Wäldchen gibt es Seen von Kühle, Schattenschnee zwischen rötlichen Weiden. Am Ausgang eines Waldes bleiben sie stehen, Arm in Arm; wie eine blinkende Sense liegt wieder der See, und über den Alpen steht lautlose Brandung des Gewölkes, ein leuchtendes Geschäum. In irgendeiner Bauernwirtschaft machen sie Rast. Ein Kind mit Zöpfen bedient sie. Hinter einer niederen Fensterreihe voll Sprossen und Pflanzengeschlingel und Sonne, die schräg in die Stille der hölzernen Stube fällt und ihre wartenden Teller beglänzt, spüren sie, wie weit sie gewandert sind, und genießen den verdienten Imbiß, Speck mit Brot, Bauernbrot, das sich in feuchte und köstliche Schollen bricht. An den Scheiben summt eine Fliege, Wolken von Glück, der Traurigkeit nahe, umfangen und tragen die Stunde, das seltsame Dasein und Wachsein, das Unerwartet-Gemeinsame, das in dieser werktäglichen Bauernstube wie ein Schicksal gelauert hat, das Wissen, man hat sich getroffen. Noch erhebt sich keinerlei Frage, was daraus wird, und es herrscht nur das volle Gefühl, wieviel in einem Leben möglich wäre! ... Das ist der Frühling hier, und im Sommer gackern die Hühner unter den hölzernen Tischen, das Weinlaub zu Häupten ist grün und dicht, der Himmel weißlich, der See wie mattes Blei, am Waldrand sirrt es von Bienen, über den reglosen Halmen hoher Wiesen zittert die Bläue voll zuckender Schmetterlinge, die Gebirge verlieren sich im Sonnenglastund nun (kaum habe ich mein Gläschen geleert) ist es schon wieder Herbst; schon wieder dies alles: Körbe voll Laub, Nässe der Nebel und plötzlich der Mittag, ein Mittag wie jetzt, Gold in den Lüften, und die Zeit streicht wie eine unsichtbare Gebärde über die Hänge; Äpfel plumpsen. Wenn man jetzt durch Wälder geht, riecht es nach Pilzen. Hier riecht es nach Most. Wespen summen um die Süße der Vergärung, immer wieder Wespen, und in Früchten, zu kurzer Reife gedrängt, fällt uns die sommerliche Sonne noch einmal zu, Süße erinnerter Tage, man sitzt in den Gärten, unsere Haut spürt die Kühle des Schattens, und die Gärten werden weit wie ein jähes Erstaunen, leer, aber heiter, eine bläuliche Geräumigkeit füllt die leeren Wipfel der Bäume, und wieder lodert das Welken an den Hausmauern empor, klettert das letzte Laub in glühender Brunst der Vergängnis. Daß Jahre vergehen und manches geschieht, wer sieht es! Alles ist eins, Räume voll Dasein, nichts kehrt uns wieder, alles wiederholt sich, unser Dasein steht über uns wie ein Augenblick, und einmal zählt man auch die Herbste nicht mehr, alles Gewesene lebt wie die Stille über den reifenden Hängen, am Weinstock des eigenen Lebens hangen die Trauben vom Abschied. Gehe vorbei! Noch einmal in solchen Tagen verlockt der See; man spürt die Haut, wenn man jetzt schwimmt, die Wärme des eigenen Blutes, man schwimmt wie in Glas, man schwimmt über den schattigen Gründen der Kühle, und am Ufer verscherbeln die glänzenden Wellen; draußen schwebt ein Segel vor silbernem Gewölk, ein Falter auf versponnenem Blinken, Tücher voll flimmernder Milde der Sonne über verlorenen Ufern aus Hauch. Für Augenblicke ist es, als

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