Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
stünde die Zeit, in Seligkeit benommen; Gott schaut sich selber zu, und alle Welt hält ihren Atem an, bevor sie in Asche der Dämmerung fällt ...
    Einmal sagt mein Staatsanwalt:
    »Da unten liegt gerade Herrliberg, das wissen Sie, und was man drüben sieht, das ist Thalwil.«
    Dann nimmt das Bauernfräulein unsere Teller weg, erkundigt sich, ob es geschmeckt habe, und nachdem sie das Kistchen mit den Zigarren gebracht hat, sind wir neuerdings allein. Natürlich habe ich schon lange gespürt, daß mein Staatsanwalt und Freund etwas auf dem Herzen hat. Habe ich ihn verhindert, damit anzufangen? Als unsere Zigarren brennen, ist der Zeitpunkt wohl gekommen. Die Gläser sind leer, der schwarze Kaffee noch nicht da, die Wespen verschwunden, und irgendein ländliches Kirchlein schlägt ein Uhr.
    »Ich freue mich«, sagt er, »ich freue mich aufrichtig, daß wir einander endlich kennenlernen. Aber davon möchte ich jetzt gar nicht reden! Um zwei Uhr müssen wir in der Stadt sein, und zwar zu einem Lokaltermin, erschrecken Sie nicht, zu einem Lokaltermin im Atelier – Ich verstehe«, fügt er sogleich hinzu, »daß Sie mich jetzt ansehen wie einen hinterhältigen Verfolger, wie einen Heuchler, der mit freundlichen Worten und zugleich mit einer Zwangsjacke kommt, ich verstehe Ihre ganze Angst vor diesem verstaubten Atelier da unten, überhaupt verstehe ich Sie vielleicht besser, mein lieber Stiller, als Sie glauben.« Meine Frage, was dieser Lokaltermin bezwecken soll, bleibt ohne Antwort.
    »Wenn Sie es mir erlauben«, sagt er, »möchte ich Ihnen einen Rat geben.«
    Seine Zigarre ist ausgelöscht.
    »Sehen Sie«, sagt er endlich, nachdem er seine Zigarre ein zweites Mal angezündet hat, »ich rede mit Ihnen nicht nur, weil Sibylle darum gebeten hat. Sibylle möchte Ihnen alles Unnötige ersparen, und ich glaube, sie hat recht: das Gericht wird Sie in keiner Weise verstehen, Stiller. Das Gericht wird Sie ganz einfach als Schwindler behandeln, der des Schwindels überführt ist, als eine lächerliche Figur, das Gericht ist an Schwindel gewöhnt, das können Sie sich ja denken, aber nur an Schwindel, der etwas einträgt, ein Vermögen oder einen Titel oder so, kurzum, man wird Sie zu einigen Bußen verurteilen, ich weiß es nicht, oder man wird Ihnen die Bußen erlassen, aber nicht das Achselzucken und das Kopfschütteln und die mitleidige Herablassung. Was haben Sie davon?«
    »Und was ist Ihr Rat?« frage ich.
    »Stiller«, lächelt er, »in aller Freundschaft gesprochen: ersparen Sie es uns, daß wir Sie am nächsten Freitag öffentlich dazu verurteilen müssen, Sie selbst zu sein, und ersparen Sie es doch vor allem sich selbst. Ein gerichtliches Urteil wird es Ihnen nur schwerer machen, fortan den Namen des Verschollenen zu tragen, und daß Sie zumindest als äußere Person niemand anders als der Verschollene sind, darüber brauchen wir ja im Ernst nicht mehr zu reden. Geben Sie es freiwillig zu! Das ist mein Rat, Stiller, ein Rat aus aufrichtiger Freundschaft, glaube ich.« Dann der schwarze Kaffee.
    »Fräulein«, sagt der Staatsanwalt, »machen Sie bitte die Rechnung.«
    »Alles zusammen?«
    »Ja«, sagt der Staatsanwalt, »bitte.«
    Dann meine Antwort:
    »Ich kann nicht zugeben, was nicht wahr ist.«
    Das Bauernfräulein, unsere Schweigsamkeit offenbar mißdeutend, geht aber nicht sogleich, sondern steht im Kies herum, plaudert über Wetter, dann über den Hund, während wir wortkarg unseren zu heißen Kaffee schlürfen; erst als der Staatsanwalt nochmals die Rechnung erbittet, läßt das Bauernfräulein uns in Ruhe.
    »Sie können nicht zugeben«, wiederholt der Staatsanwalt, »was nicht wahr ist –«
    »Nein«, sage ich.
    »Und wieso ist es nicht wahr?«
    »Herr Staatsanwalt«, sage ich –
    »Nennen Sie mich nicht Staatsanwalt!« unterbricht er meine ohnehin wortlose Verzagtheit: »Es würde mich freuen, wenn Sie mich als Freund betrachten könnten. Nennen Sie mich doch Rolf!«
    »Danke«, sage ich.
    »Ich nehme an«, lächelt er, »daß Sie mich seinerzeit auch nicht viel anders genannt haben –«
    Jetzt ist auch meine Zigarre ausgelöscht.
    »Ich bin glücklich«, sage ich, nachdem ich die Zigarre ein zweites Mal angezündet habe, »daß Sie mir Ihre Freundschaft schenken. Ich habe hier keine Freunde. Aber wenn es Ihr Ernst ist, daß Sie nicht mein Staatsanwalt sein wollen, und ich glaube es Ihnen von Herzen – Rolf ... aber dann, sehen Sie, darf ich auch von Ihnen erwarten, was man von einem Freund erwarten

Weitere Kostenlose Bücher