Stiller
Türe.
»Ja«, sagt der Staatsanwalt mit sofortigem Händereiben, »– machen Sie doch ein Fenster auf, Knobel, das ist ja eine gräßliche Luft.«
Mein Freund tut mir leid, hat doch dieses Atelier, wie ich wohl weiß, einmal in seinem eigenen Leben eine gewisse Wichtigkeit bekommen, eine unverhältnismäßige Wichtigkeit, er weiß es heute sehr wohl; aber das ist ja die Infamie eines solchen Lokaltermins, daß Erinnerungen, die einer längst überwunden hat, durch plötzliche Anschaulichkeit nochmals beschworen werden sollen, um den Betroffenen zu überwältigen. Zum Glück komme ich nicht dazu, etwas freundschaftlich Gemeintes zu sagen, denn gerade in diesem Augenblick klingelt es, und wir sind beide froh darum. Knobel sucht den Drücker, der die untere Haustür öffnet, und findet ihn. Ich weiß noch immer nicht, wer eigentlich alles zu diesem idiotischen Lokaltermin kommen soll, vermutlich mein Verteidiger, möglicherweise auch Julika, denke ich und ziehe übrigens meinen Mantel nicht aus; ich habe hier nichts verloren. Offenbar hat der gute Knobel nicht richtig gedrückt, denn es klingelt gerade wieder. Der Staatsanwalt:
»Warum drücken Sie denn nicht?«
»Ich drücke ja«, sagt Knobel, »ich drücke.«
Mittlerweile sehe ich mich ein wenig um, die Hände in den Hosentaschen unterm offenen Mantel, meine Mütze auf dem Kopf, denn es ist ja keine Wohnung, wo jemand wohnt. Viel Kunst steht herum. Abgesehen von dem dicken Staub auf jedem Sims, jedem Spachtel, jeder Staffelei, jedem Sockel, jedem Möbel, so daß man schon aus diesem Grunde nichts anrühren möchte, es ist ein Atelier, wie ich es mir nach den Schilderungen von Frau Sibylle gedacht habe, etwas kunterbunt, auf wohnliche Weise werkstatthaft, eine Mischung von Proletarisch und Romantisch, ein Ofenrohr quer durch den Raum demonstriert mit einer nicht zu übersehenden Geste, daß es hier keinerlei Konvention gibt, dabei ist es genau das Ofenrohr, wie man es in fast jedem Pariser Atelier findet, das konventionelle Requisit einer gewissen Bohème. Meinetwegen! Im übrigen ist es ein großer, insofern erfreulicher Raum, etwas wie ein Estrich mit rohen Tannenriemen, die teilweise, wenn wir darauf gehen, leise girren, und mit viel Helle an einem so sonnigen Herbsttag wie heute. Unter einer Dachschräge befindet sich, genau wie Frau Sibylle sich erinnert, ein alter Gasherd, Email voll rostiger Narben, ferner ein Schüttstein aus Terrazzo, ein schiefer Schrank mit einigem Geschirr darin, offenbar als munteres Prunkstück gemeint eine oberste Reihe von lauter gestohlenem Geschirr mit verschiedenen Inschriften: Hotel des Alpes, Bodega Granada, Kronhalle Zürich und so weiter. Der ehemals wohl rote Schlauch am Wasserhahn, jetzt eine graue und schimmelige Gummi-Mumie, ist immer noch mit einer Schnur befestigt; es tropft, und ich frage mich, ob es seit sechs Jahren so tropft, eine beiläufige Vorstellung, die mich irgendwie irritiert, an das Tropfen in den Grotten von Carlsbad erinnert. An einem Nagel hängt ein Handtuch, von schwärzlicher Fäulnis gefleckt wie Aussätzige und es fehlt auch nicht an Spinnweben, versteht sich, beispielsweise am Telefon, das neben der Couch steht und vermutlich nicht mehr klingelt, unter der Last unbezahlter Rechnungen verstummt. Die Couch ist breit, grand lit, ebenfalls verstaubt, so daß sich niemand darauf setzt, und das wiederum gibt diesem Möbel eine so aufdringliche Wichtigkeit, als stünde es in einem Museum, bitte nicht berühren, etwa wie das Philipp-Bett im Escorial. Auch mein Staatsanwalt, sehe ich, hat die Hände in den Hosentaschen, um nichts zu berühren. Er betrachtet die paar Büchergestelle. Eine Bibliothek kann man es wohl nicht nennen, was der Verschollene hinterlassen hat; nebeneinem Platon-Bändchen und ein bißchen Hegel stehen Namen, die heute schon kein Antiquar mehr kennt, Brecht steht neben Hamsun, dann Gorki, Nietzsche, sehr viel Reclam-Bändchen auch mit Operntexten, Graf Keyserling steht auch noch da, allerdings mit dem schwarzen Stempel einer öffentlichen Bibliothek, dann allerlei Kunstbücher, vor allem moderne, eine Anthologie schweizerischer Lyrik, Mein Kampf steht neben André Gide, auf der andern Seite gestützt von einem Weißbuch über den Spanischen Bürgerkrieg, allenthalben Inselbändchen, eigentlich keine einzige Gesamtausgabe, Vereinzeltes wie Westöstlicher Diwan und Faust und Gespräche mit Eckermann, Don Quixote de la Mancha, Zauberberg als das einzige von Thomas Mann, Ilias,
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