Stiller
konnten. Von Bauz keine Spur! Endlich nahm Rip seine Flinte aus dem Gras, aber siehe da, sie war von Wacholder überwuchert. Und nicht nur das, rostig war sie auch, die jämmerlichste Flinte der Welt! Der hölzerne Schaft war verfault. Rip schüttelte den Kopf, drehte das Ding einige Male in der Hand, dann warf er es weg und erhob sich. Denn schon ging die Sonne unter. Daß die verblichenen Knochen, die neben seinem Beutel lagen, die letzten Reste seines treuen Hundes sein sollten, das Skelett von Bauz, das wollte Rip nicht glauben. Aber was sollte es anderes sein? Es stimmte schon, er träumte nicht, er rieb sich das Kinn und griff einen Bart, der ihm auf die Brust reichte, einen Greisenbart. Jahre waren vergangen.Wie viele? Jedenfalls war es spät. Von Hunger getrieben und wohl auch von Neugierde, wieviel an Leben ihm noch verblieben wäre nach jenem dummen Kegelspiel, kam Rip van Winkle in sein trautes Dorf, dessen Straßen und Häuser er nicht wiedererkannte. Lauter Fremde! Nur sein eigenes Häuschen stand noch verlottert wie je, leer und ohne Fensterscheiben, Wind wohnte darin. Und wo war Hanne, seine Frau? Langsam packte ihn doch das Grauen. Die alte Wirtschaft, wo man stets das Nötigste erfuhr, war nimmer zu finden. Verloren und einsam, verstört, furchtsam und von fremden Kindern umringt, fragte er nach den alten Kumpanen. Man wies ihn auf den Friedhof oder zuckte die Achsel. Endlich fragte er (mit leiser Stimme) auch nach sich selbst: Ob denn niemand mehr da wäre, der Rip van Winkle kennt? Sie lachten. Rip van Winkle, der Eichhörnchenjäger, war ihnen wohlbekannt, und er hörte gar schnurrige Geschichten von dem Mann, der vor zwanzig Jahren, wie jedes Kind weiß, in eine Schlucht gestürzt oder den Indianern in die Hände gefallen war. Was sollte er tun? Scheu fragte er nach Hanne, der Frau jenes Eichhörnchenjägers, und da sie ihm sagten, ja, die wäre schon lange vor Kummer gestorben, weinte er und wollte gehen. Wer er denn selber wäre? fragte man ihn, und er besann sich. Gott weiß es! sagte er: Gott weiß es, gestern noch meinte ich es zu wissen, aber heute, da ich erwacht bin, wie soll ich es wissen? Die Umstehenden tippten mit dem Finger gegen ihre Stirnen, und umsonst erzählte er die wunderliche Geschichte mit den Kegeln, die kurze Geschichte, wie er sein Leben verschlafen hätte. Sie wußten nicht recht, was er damit sagen wollte. Er konnte es auch anders nicht sagen, und bald gingen die Leute wieder ihres Wegs, nur ein junges und ziemlich hübsches Weib blieb stehen. Rip van Winkle ist mein Vater gewesen! sagt sie. Was weißt denn du von ihm? Eine Weile blickte er in ihre Augen und spürte wohl auch die Versuchung zu sagen, daß er ihr Vater wäre, aber war er es denn, den sie alle erwarteten, der Eichhörnchenjäger mit den Geschichten, die immer ein wenig wackelten und umfielen, wenn sie lachten? Endlich sagte er: Dein Vater ist tot! Und so ließ auch das junge Weib ihn stehen, was ihn schmerzte, doch es mußte wohl sein. War er denn umsonst erwacht? Er lebte noch einige Jahre im Dorf, ein Fremdling in fremder Welt, und verlangte nicht, daß sie ihm glaubten, wenn er von Hendrik Hudson erzählte, dem Entdecker des Flusses und Landes, und von seiner Schiffsmannschaft, die von Zeit zu Zeit sich in den Schluchten versammle und Kegel spiele, und wenn er meinte, dort müßten sie ihren alten Rip vanWinkle suchen. Man lächelte, gewiß, in heißen Sommertagen hörte man zuweilen ein dumpfes Rollen hinter den Hügeln, ein Gepolter wie von Kegeln; doch die Erwachsenen hielten es immer nur für ein gewöhnliches Gewitter, und das war es wohl auch. – Soweit das Märchen.
»Und?« fragte mein Verteidiger, nachdem ich es erzählt habe und endlich meine Zigarre anzünde, »was hat das wieder mit unsrer Sache zu tun? Gegen Ende September steigt die große Verhandlung, und Sie erzählen mir Märchen – Märchen! – und damit soll ich Sie verteidigen?«
»Womit denn sonst?«
»Märchen!« klagt er, »statt daß Sie mir ein einziges Mal eine klare und blanke und brauchbare Wahrheit erzählen!«
PS. – Ich habe meinen Verteidiger um Lieferung eines neuen Heftes ersucht, da dieses bald vollgeschrieben sein wird. Mein Fleiß freut ihn. Noch habe ich ihn nicht darin lesen lassen, und seine ernsthafte Hoffnung, daß er mit diesem Heft sozusagen mein Leben in seine Aktenmappe stecken könne, macht mir langsam Sorge.
Zürich könnte ein reizendes Städtchen sein. Es liegt am unteren Ende eines
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