Stiller
hätte. Er war menschlich ganz großartig, der Arzt. Nicht daß er irgend etwas ins Blaue hinaus garantierte; dazu nahm er Julika als Persönlichkeit zu ernst. Immerhin hielt er es, angesichts ihrer grellen Verzweiflung, für möglich, für durchaus möglich, daß die schöne Julika dereinst zum Ballett zurückkehren könnte. Ohne Garantie, wohlverstanden. Das einzige, was er als verantwortungsbewußter Arzt garantieren konnte, war ihr früher Tod, falls sie nicht sofort in ein Sanatorium gehen würde. Julika war nun etwa siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Übrigens kannte sie auch schon den Namen ihres Sanatoriums, seine hübsche Lage an einem Wald, ebenso die ungefähren Kosten, die größtenteils von der Krankenkasse übernommen werden mußten. Hätte Stiller, ihr Mann, sich je einmal erkundigt und ihr gesagt, daß so etwas auf die Krankenkasse ginge, Julika wäre schon längst im Sanatorium, heute wahrscheinlich schon geheilt. Dieses Versäumnis leugnete Stiller übrigens nicht. Ihre arglose Bemerkung, Julika sah es mit Verwunderung, betraf ihn sichtlich, bestürzte ihn; Stiller schien den Tränen nahe. Nun mußte Julika ihn auch noch trösten? Sie legte ihren Arm um seine Schulter, was für Julika, in ihrer scheuen Art, schon viel war, zumal es jetzt allerlei anderes zu tun gab. Der Ravel-Valse und der De Falla-Dreispitz, zwei so himmlische Ballette, sollten also ihre letzte Premiere sein; am Tag danach, Donnerstag dem Soundsovielten, mußte Stiller sie nach Davos bringen. Julika zeigte es ihm in ihrem Kalenderchen, wo das Datum schon mit einem Kreuz versehen war. Was paßte ihm nicht? Stiller erhob sich von der Couch, ohne ihr Kalenderchen wirklich angesehen zu haben, schmetterte sein trockenes Glas in die Küchennische, wo es zerschellte, und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, die bleichen und schmalen Lippen, um dann, beide Hände in den Hosentaschen, stumm wie eine Skulptur vor dem großen Atelierfenster zu stehen, Rücken gegen Julika, als wäre es ihre Schuld, daß sie nach Davos gehen mußte. Mehr noch: als machte sie ihm einen Strich durch die Rechnung mit ihrer begreiflichen Verzweiflung, nichts weiter. »Warum schweigst du?« fragte sie. »Entschuldigung«, sagte er mit Bezugauf das Glas, das Julika wohl erschreckt hatte; doch darum ging es ihr ja nicht. »Was denkst du denn die ganze Zeit?« Stiller ging zum Schrank, nahm eine fast leere Gin-Flasche hervor, füllte zwei Gläschen mit dem letzten Rest und bot Julika eine Art von Tröstung an, die sie nicht unfreundlich, aber entschieden ablehnte. Seine netten Gesten, wenn er mit Gin oder gestohlenem Flieder etwas wiedergutmachen wollte, waren ihr zuweilen unerträglich; Stiller gefiel sich in diesen gemütvollen Gesten, schien ihr, und kam sich auf eine allzu billige Weise als zärtlicher Gatte vor, als sorglicher Freund, als verläßlicher Beschützer, als eine Seele von Mann, ja, aber in all den Jahren sich ein einziges Mal auch nur zu erkundigen, ob die Krankenkasse allenfalls für das Sanatorium aufkommen würde, das war ihrem guten Stiller nie eingefallen. »Danke«, sagte sie, »ich nicht.« – »Warum nicht?« – »Alkohol ändert nichts.« Stiller kippte sein Glas. »Nein«, sagte er endlich, leerte auch das Gläschen von Julika mit einem einzigen Zug. »Nein – natürlich ist es nicht deine Schuld, Julika, daß du jetzt ins Sanatorium gehen mußt, davon kann ja nicht die Rede sein, natürlich ist es meine Schuld.« – »Das habe ich nie gesagt!« – »Alles ist meine Schuld«, fuhr er eigensinnig fort, »du brauchst dir keine Sorgen zu machen, meine Liebe, du fährst nun also nach Davos, du Armes, und ich bleibe hier in der Stadt, ich der Gesunde – mein schlechtes Gewissen ist für dich das beste Ruhekissen.« Dazu lachte er schäbig. »Was soll das heißen?« fragte Julika, »immer kommst du mit solchen Sprüchen.« Stiller nahm die leere Gin-Flasche in die Hand, schüttelte den Kopf wie über sich selbst, schien aber gelassen und schleuderte die Gin-Flasche ebenfalls in die Küchennische, so daß es von Scherben nur so spritzte. Es war ein Verhalten, das Julika bis heute nicht vergessen hat, Ausdruck einer hemmungslosen Ich-Bezogenheit, wie ich ebenfalls finde, seitens des Verschollenen.
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Einmal im Spaß, etwas angetrunken, soll der verschollene Stiller in einem Freundeskreis gesagt haben: »Ich habe eine wunderbare Frau, ich freue mich jedesmal auf das Wiedersehen, und jedesmal, wenn sie da
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