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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Vorabend, schämte sich aber zu fragen. Eine Haarspange am Boden, die Julika wortlos aufhob, wortlos auf den Tisch legte, und zwei leere Flaschen Châteauneuf du Pape, also nicht gerade das Billigste, nun ja, Julika war nicht kleinlich, auch ein schwarzes Haar an seiner hellen Hose, was bewies es schon! Stiller lachte. Indessen war es gar nicht jener Weiberbesuch vom Vorabend, weswegen Julika auf der Stelle zusammenbrach; sein oberflächlich-tröstliches Lachen, seine im Grunde sadistische Zärtlichkeit, womit er meinte eine Eifersüchtige aufrichten zu müssen, waren fehl am Platz, weiß Gott, auch seine Grobheit, womit er sich hysterische Szenen um eine Haarspange, wie Stiller es nannte, ein für allemal verbat; all dies war sehr fehl am Platz. Lange konnte die arme Julika vor Schluchzen überhaupt nicht sprechen. »Julika?« fragte er endlich mit einiger Ahnung, daß ihr Schluchzen nichts mit der dummen Haarspange zu tun hatte. »Was ist denn los? – Julika? – So rede doch! –«
    Julika war beim Arzt gewesen.
    »Bist du?« fragte er. Sie versuchte sich zu fassen. »Und?« fragte er. Stiller saß auf der Couch neben ihr, Glas und Trockentuch noch immer in der Hand, während die verzweifelte Julika, von neuem Schluchzen geschüttelt,sich mit beiden Händen in das Kissen krallte, derart, daß das Kissen riß. Noch nie hatte Julika so geweint. Und Stiller, scheint es, war einfach hilflos; er legte das Trockentuch weg, um mit der freien Hand über ihr Haar zu streichen, als wäre ihr Leben zu retten mit solchem zärtlichen Getue. Es schien ihm nicht zu passen, daß Julika beim Arzt gewesen war, es störte sein munteres Pfeifen. Julika zerriß das Kissen, und Stiller fragte bloß: »Was sagt er denn, der Arzt? –« Die Art seiner Teilnahme (und das findet Julika noch heute) war grauenhaft, seine zärtliche Besonnenheit, seine freundschaftliche Besorgtheit, all dies mit dem Glas von seinem Vorabend in der Hand; ihre gestammelte, immer wieder von Erstickungsnot unterbrochene und von immer neuem Schluchzen verschüttete Eröffnung, daß sie nämlich sobald wie möglich nach Davos gehen müßte, in ein Sanatorium nach Davos, entlockte ihm vorerst nur die trockene Frage: »Seit wann weißt du das?« – »Seit bald einer Woche!« sagte sie in der Annahme, Stiller könnte die Grauenhaftigkeit dieser Woche erahnen. »– seit einer Woche schon!« Statt dessen fragte er bloß: »Und warum meldest du es mir erst heute?« Stiller benahm sich unmöglich. »Ist es wahr?« fragte er sogar. »Wahr? Wahr? ...« Erst lachte Julika wohl hellauf, dann schnellte sie empor, blickte ihn an und sah, wie Stiller sie ebenfalls anblickte: als wäre es möglicherweise nur eine Finte von ihr, eine billige Übertreibung, um ihm die fröhliche Erinnerung an den Vorabend zu verderben.
    Sie schrie: »Geh! Geh! Geh mir aus den Augen!« Stiller schüttelte den Kopf. »Geh! Bitte. Geh hinaus!« – »Julika«, sagte er, »das ist mein Atelier.« Seine Ruhe war der blanke Hohn, eine Unmenschlichkeit, wie Julika es nicht für möglich gehalten hätte, ja, Stiller lächelte sogar, während Julika von ihrem möglichen Tode sprach. Er lächelte! Und die arme Julika, seit fast einer Woche schon allein mit der Last dieses ärztlichen Befundes, traute ihren Augen und Ohren nicht: Stiller ging dazu über, das Glas vom Vorabend weiter zu trocknen, als wäre dieses Glas nun das Dringendste, das Zerbrechlichste, ja der wahre Gegenstand seiner Sorge, und dann wollte er, indem er zwar einen zärtlichen Ton wahrte, ganz genau wissen, nicht was die verstörte Julika sich an Schrecken ausmalte, sondern was der Arzt ihr nun gesagt hätte, ganz genau, ganz sachlich, ganz wörtlich. »Ich sage es ja! Sofort nach Davos, sagte er, sofort ins Sanatorium, sonst ist es zu spät.« Es verging eine Weile, bis Stiller die ganze Tragweite dieser Meldung zu erfassen schien. Was ihm durch den Kopf ging, verriet er nicht, nein, er biß nur in seine Unterlippe und wurde wie ein Sack, wenn man ihn rüttelt, irgendwiekleiner, blickte Julika mit plötzlich ganz hilflosen Augen an. War es nicht immer sein Wunsch gewesen, daß Julika sich wieder einmal durchleuchten ließe? Nun hatte sie seinen Wunsch erfüllt, nichts weiter. Warum starrte er sie so an? Es war ihre linke Lunge. Es war so, daß der Arzt überhaupt nur in menschlichen Vertröstungen redete, scheint es, ohne sich in die medizinische Terminologie einzulassen. Er nannte Fälle von völliger Genesung, die er selbst gesehen

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