Stiller
bitte sehr! sagte Julika etwas täppisch-übertrieben: Ich bitte darum! Blödsinnigerweise hatte sie sich tatsächlich in einen Raucher gesetzt. Nicht einmal ein kleines, nettes, unverbindliches Geplauder, wie der deutsche Herr es nicht anstrebte, aber doch in selbstverständlicher Art begann, kam für Julika, die Flüchtlingin, in Frage, nein, sie hörte im Geist schon die überflüssige, in solchen Gesprächen unvermeidliche Erkundigung: Sie leben in Zürich? Sie kommen aus den Ferien? Sie leben in Davos? Garstig, als hätte ihr dieser deutsche Herr schamlos in den Busen geguckt, drehte Julika sich ab, jeder Unterhaltung ein Ende zu machen, fensterwärts. Dabei hatte der deutsche Herr nur über diesen verhältnismäßig milden Oktober gesprochen. Jetzt, Gott sei Dank, nahm er wieder sein Buch, rauchte aber unverdrossen seine noch beinahe ganze Zigarre dazu,»Marmorklippen« von Ernst Jünger, ein Buch, das ihr der verstorbene junge Jesuit nie empfohlen hatte. Marmorklippen, ein Wort, das Julika neuerdings irritierte, und sein Rauch war gräßlich. Julika bat, ein wenig das Fenster öffnen zu dürfen, o nein, nicht wegen Rauch; nur so, um die Gegend zu sehen. Mit flammenden Haaren im Wind lehnte Julika hinaus, hatte Atemnot, die auch ein Gesunder dabei haben kann; vor allem aber: ein dunkler Citroën, genau wie ihr Oberarzt einen hatte, folgte dem Bähnchen in ziemlich dreister Fahrt, blieb zurück infolge langer Kehren, wo das Bähnchen durch einen kurzen Tunnel stieß, und holte wieder auf, raste näher und näher, stoppte vor einer geschlossenen Barriere, raste wieder und holte auf. Der Oberarzt? Julika zog ihr flammendes rotes Haar aus der Landschaft zurück, der deutsche Herr mußte nun sofort das Fenster schließen. Der dunkle Citroën überholte eben das Bähnchen; in Landquart, dachte Julika, wird ihr Oberarzt auf dem Perron stehen, ihr das bißchen Gepäck abnehmen und lächeln: Frau Julika, Frau Julika, das lassen wir wohl lieber sein, dort drüben steht mein Citroën! Und siehe da, in Landquart war niemand, nicht einmal ein Gepäckträger. Der Marmorklippen-Herr, trotz Julikas garstigem Verhalten unverdrossen in seiner Höflichkeit, trug ihr das Gepäck über den kleinen Platz dort und fragte: »Sie leben in Zürich?« Darauf nahm sich Julika doch einen Gepäckträger. Dann, spontan und ohne weitere Überlegung, trat Julika in eine Kabine, ja vielleicht nur aus einem Sog der Sensation heraus, wie ein freier Mensch überall in eine Kabine treten zu können, und versuchte, Stiller anzurufen, jedoch vergeblich; niemand nahm ab. Es ist also einfach nicht wahr, daß Julika ihn hinterlistig hätte überraschen wollen. Auf dieser ganzen Reise, merkwürdigerweise, dachte Julika nicht eine Sekunde lang daran, daß da die andere auch noch war. Dann ein zweiter und dritter Versuch, Stiller anzurufen; ebenfalls vergeblich. Der deutsche Herr war nun doch etwas beleidigt, hielt sich am anderen Ende des Perrons, saß mit verschränkten Beinen auf der Bank und las seine »Marmorklippen«; nun endlich ohne Zigarre. Leider hatte der Zug nach Zürich-Paris-Calais etwas Verspätung, sonst hätte Julika ihn vermutlich noch besteigen können. Es begann (sagt sie) ohne Husten, einfach mit einem zunehmenden Gefühl, keine Luft zu haben, was aber, wie sie sich glauben machen wollte, auch nur die Aufregung sein konnte, die natürliche Aufregung einer Flüchtlingin, die Vorfreude, die natürliche Enttäuschung, daß Stiller nicht im Atelier und nicht in der Wohnung war. Sie atmete ganz tief, ganz langsam, ganz ruhig. Siehatte ihren Dienstmann geschickt, einige Zeitungen zu kaufen, insbesondere jene schweizerische Illustrierte, als bestünde trotz allem die märchenhafte Möglichkeit, daß Julika noch immer auf der Titelseite tanzte, und mußte sich nun auf ihr kleines Gepäck setzen. Niemand bemerkte, daß es Julika schwindlig wurde. Julika glaubte jetzt zu ersticken, hörte dabei gerade noch das Getöse ihres einfahrenden Zuges nach Zürich–Basel–Paris–Calais, sah sogar das Schildchen mit dieser Aufschrift, sonst aber nichts mehr. In diesem Augenblick waren die Leute natürlich mit ihrer eigenen Reise beschäftigt, stürmten das nächste Trittbrett, Gepäck in beiden Händen, und taten fürwahr, als wäre es der Zug ins Leben, der Bahnsteig hingegen der sichere Tod. Julika verblieb auf diesem Bahnsteig ... Drei Stunden später, nach einer Fahrt mit dem Krankenwagen, lag sie wieder in ihrem weißen Bett, schlotternd trotz
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