Stiller
aller Bettflaschen, froh, kein Wort reden zu müssen. Die Schwester redete ebenfalls kein Wort, handelte nach den Anweisungen des Oberarztes, doch ihrem Gesicht war anzusehen, daß es kein Traum gewesen war, diese Fahrt nach Landquart hinunter, sondern ein Unsinn voll Wirklichkeit. Und dem Oberarzt war es wohl klar, wieso die unglückliche Frau Julika einen solchen Unsinn unternommen hatte. Sein Unwille richtete sich nicht gegen die Kranke, versteht sich, nicht einmal gegen diese albernen Schwestern, die stundenlang diese Flucht nicht einmal gemerkt hatten; der Oberarzt versuchte Stiller anzurufen. Ohne Erfolg. Später schickte er ein Telegramm mit der Aufforderung, Herr Stiller möchte sofort nach Davos kommen. Und die arme Julika, kaum wieder bei Bewußtsein, mußte ihren Mann abermals in Schutz nehmen. Nicht einmal auf jenes Telegramm antwortete er. Julika mußte die Adresse von seinen Freunden geben, von Sturzenegger beispielsweise. Als sich dann herausstellte, daß Herr Stiller zur Zeit in Paris weilte, ohne seine Frau auch nur davon unterrichtet zu haben, machte es im Sanatorium allerdings einen merkwürdigen Eindruck, man muß schon sagen: einen peinlichen, einen empörenden Eindruck, obzwar man der armen Kranken wohl nicht davon redete, aber Julika sah es natürlich in ihren Gesichtern. Stiller in Paris! Um so rührender waren alle anderen, und Julika, die Unglückliche, bekam Geschenke von allen Seiten: Blumen, Süßigkeiten, sogar eine Brosche, lauter Zeichen einer herzlichen Gemeinschaft von Veranda zu Veranda. Sie mußte an den jungen Sanatoriums-Veteran denken, der ihr für diesen Fall ein allgemeines Schweigen der Verachtung vorausgesagt hatte; er hatte unrecht, zeigte sich, nicht nur mit seiner dreisten Behauptung,daß Julika ein infantiles Verhältnis zur Welt habe, sondern auch in diesem Punkt. Im Gegenteil, wie rührend sie alle waren! Und nur er selbst, der junge Sanatoriums-Veteran, schwieg ... Ihr Zustand war katastrophal.
Und dann, ja, dann kam jener ungeheuerliche Brief von Stiller aus Paris, jener Zettel, den Frau Julika Stiller-Tschudy neulich aus ihrer Handtasche genommen und mir gezeigt hat, so ein Zettel mit flüchtiger Bleistiftschrift, sieben oder acht Zeilen, kein Wort des Mitleids, kein Wort der Reue, kein Wort auch nur des Trostes, nein, alles in einem eisigen und herzlosen Ton, als hätte Julika ihre unselige Flucht nur unternommen, um in Landquart zusammenzubrechen, und als wäre Julika überhaupt nur krank, um Stiller ein schlechtes Gewissen zu machen, krank bis auf den Tod, so daß sie nur noch von Spritzen lebte. Er war einfach grotesk, jener Zettel; denn von einem schlechten Gewissen war nun aus diesen Zeilen gar nichts zu spüren, weiß Gott, jedes Wort auf jenem Zettel war von einer schamlosen Ich-Bezogenheit, selbstgerecht bis zum Zynismus.
(Leider habe ich das Brieflein nicht hier.)
Julika lebte von Spritzen, wie gesagt, und es vergingen fast drei volle Wochen, bis Stiller tatsächlich in ihrer Veranda erschien, um ausschließlich von sich selbst zu reden, von seiner Niederlage in Spanien, von einer Sache also, die ein Jahrzehnt zurücklag, und kein Wort des Trostes auch jetzt, nicht einmal eine Frage nach ihrem Zustand, der katastrophal war, kein Blick auf ihre Fieberkarte, nein, Stiller redete bloß von sich selbst: als ginge es um ihn, um Stiller, um den Gesunden!
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Hier wäre etwas nachzutragen.
Stiller war seinerzeit, wie schon erwähnt, im Spanischen Bürgerkrieg gewesen, Freiwilliger bei der Internationalen Brigade, damals ein sehr junger Mensch. Es ist etwas unklar, was ihn zu dieser kombattanten Geste getrieben hatte. Vermutlich war es vielerlei zusammen, ein etwas romantischer Kommunismus, wie er zu jener Zeit bei bürgerlichen Intellektuellen nicht selten war, ein begreifliches Bedürfnis auch, in die Welt zu kommen, ein Bedürfnis nach geschichtlicher und überpersönlicher Verpflichtung, nach Tat; vielleicht war es auch, wenigstens zum Teil, eine Flucht vor sich selbst. Seine Feuerprobe bestand er (vielmehr: er bestand sie eben nicht!) vor Toledo, wo die Faschisten sich im Alcazar verschanzt hatten. Der junge Stiller hatte eine kleine Fähre am Tajo zu bewachen, infolge Männermangel sogar allein. Drei Tage lang geschah nichts. Dann aber, als im Morgengrauenendlich vier Franco-Spanier sich am andern Ufer zeigten, ließ Stiller sie die Fähre benutzen, ohne zu schießen, wiewohl es für ihn, der in tadelloser Deckung lag, eine Leichtigkeit gewesen
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