Stiller
kommen. Plötzlich meldet sich mein Jude. Allgemeines Gelächter! Sogar der Oberwärter merkt, daß dieses Geständnis (er hat noch nie einen Juden gesehen, der Fußball spielt) nur ein Hohn sein kann, was schlimmer ist als Diebstahl einer ungekochten Kartoffel. Der Jude muß austreten, seinerseits bleich vor Erregung. Alle anderen: fünf Minuten Laufschritt. Der arme Dicke vor mir, schwabbelnd wie eine Gummi-Bettflasche, bleibt natürlich schon in der ersten Runde zurück, macht Spirale, um den Weg zu verkürzen, bis ein Wärter ihm sagt, er solle aufhören. Man ist nicht unmenschlich. Nur, versteht sich, Ordnung muß sein, auch ein gewisser Ernst. Schließlich sind wir in einem Untersuchungsgefängnis ... Zuweilen, allein in meiner Zelle, habe ich das Gefühl, daß ich all dies nur träumte; das Gefühl: Ich könnte jederzeit aufstehen, die Hände von meinem Gesicht nehmen und mich in Freiheit umsehen, das Gefängnis ist nur in mir.
»Ich habe mich bemüht«, sagt mein amtlicher Verteidiger, »Ihre hoffentlich kurze Zeit in der Untersuchungshaft so angenehm wie möglich zu gestalten – Whisky ist nicht gestattet! – Sie haben die beste Zelle im ganzen Haus, glauben Sie mir, nicht die größte, aber die einzige mit Morgensonne; Sie haben diesen Blick in die alten Kastanien. Was das Geläute vom Münster betrifft – es ist sehr laut, ich gebe es zu; aber was erwarten Sie denn von mir! Ich kann doch das Münster nicht anderswohin stellen!«
Das ist richtig, wie überhaupt alles, was mein Verteidiger sagt, in einer Weise richtig ist, die mich in keinem Fall überzeugt und doch immerzu ins Unrecht setzt. Das Geläute ihres Münsters, ein metallisches Dröhnen, das zweimal täglich losbricht, mindestens zweimal, wenn nicht Hochzeiten und Begräbnisse hinzukommen, ein Lärm, daß man seine eignen Gedanken nicht mehr hört, ein Zittern der Luft, ein klangloses Beben, ein Gerausch, wie wenn man von einem zu hohen Sprungbrett ins Wasser gesprungen ist, es macht mich taub, schwindlig, idiotisch; aber mein Verteidigerhat recht: er kann das Münster nicht anderswohin stellen! Und da ich dann schweige, vor Hoffnungslosigkeit schweige, greift er zu seinem Dossier und sagt: »Gut – kommen wir zur Sache!«
Mein Verteidiger ist ein herzensguter, jedenfalls ein argloser Mensch, Sohn aus gutem Haus, rechtschaffen bis in die Kleidung, etwas verhemmt, doch sogar seine Hemmungen werden zu Manieren, und vor allem ist er gerecht, kein Zweifel, gerecht bis in die Nebensächlichkeit, gerecht zum Verzweifeln, gerecht aus einer beinahe schon angeborenen Überzeugung heraus, daß es Gerechtigkeit gebe zumindest in einem Rechtsstaat, zumindest in der Schweiz. Dabei ist er nicht dumm. Er weiß sehr viel, zuverlässig wie ein Lexikon, vor allem in schweizerischen Belangen, so daß es eigentlich keinen Sinn hat, mit meinem Verteidiger über die Schweiz zu reden; jeder Gedanke, der die Schweiz etwa in Frage stellt, erstickt unter einer Fülle historischer Tatsachen, die nicht zu bestreiten sind, und am Ende, wenn man seine Schweiz nicht einfach lobt, hat man immer unrecht, in der Tat, genau wie mit diesem Geläute ihres Münsters. Vielleicht ist es nur seine Temperamentlosigkeit, was mich so maßlos reizt, seine Korrektheit, seine Mäßigkeit; er ist mir an Intelligenz überlegen, doch verwendet er seine ganze Intelligenz lediglich darauf, keine Fehler zu machen. Ich finde diese Leute gräßlich! Ich kann ihm nichts vorwerfen, er hält mich für einen herzensguten, jedenfalls arglosen, im Grunde durchaus vernünftigen Menschen, einen Menschen guten Willens, einen Schweizer. In diesem Sinn verteidigt er mich und bringt mich jedesmal zum Platzen. Dann drehe ich mich auf dem Absatz, lasse ihn auf der Pritsche sitzen und zeige ihm meinen Rücken, schweige bis zur Unflätigkeit, Blick in die alten Kastanien hinaus, Hände in den Hosentaschen, einfach weil ich Leute seiner Art, die sich selbst und daher auch mir keinen Mord zutrauen können, auf die Dauer nicht ertrage.
»Ich verstehe Sie vollkommen«, sagt er, »ich verstehe Sie vollkommen! Sie sind ungehalten über die Schweiz, die Sie mit Untersuchungshaft empfängt, begreiflicherweise, ich meine: begreiflicherweise ungehalten, denn es ist bitter, die Heimat durch ein Gitter zu sehen –«
»Was heißt Heimat?« frage ich.
»Nur« – überspringt er meine immerhin nicht unwesentliche Frage – »erschweren Sie mir nicht die Verteidigung. Leider sind gewisse Äußerungen, die Sie
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