Stiller
tiefer zu loten, sondern war für muntere Geselligkeit, entkorkte die nächste Flasche, in seiner liebenswerten Art besorgt, daß alle zu trinken hatten, auch die schöne Julika in der Ecke, die, zum erstenmal in jenem Atelier, sich mit ihren großen und so ungemein schönen Augen umsah, ohne viel zu trinken, ohne etwas zu sagen; ihr Beitrag, wie so oft, war ihr köstliches Haar mit dem rötlichen Glanz ... Stiller hatte mit seiner Anekdote, scheint es, immer wieder Erfolg. Julika mußte sie später, einmal mit Stiller befreundet und dann verheiratet, natürlich noch öfter anhören. Das gehört ja zu den Pflichten einer lieben Gattin, nicht zu gähnen und nicht zu unterbrechen, wenn ihr Mann wieder einmal mit seiner Parade-Nummeranfängt. Es war eine Parade-Nummer, Stiller mit seiner Fähre am Tajo. Nur Kommunisten rümpften die Nase, wenn von einem Sieg des Menschlichen über alles Ideologische geredet wurde, und schwiegen aus Freundschaft zu Stiller; höchstens richteten sie sich an die Zuhörer mit der Frage, wie sie sich in einem Fall, wo es nicht gerade gegen Faschisten ginge, zu einem Sieg des Menschlichen über alles Ideologische stellen würden. Aber solche Gespräche hatten dann nichts mehr mit Stiller zu tun. Und die Kommunisten wurden ohnehin rarer; wenigstens im Kreis ihrer Bekannten. In allen andern Gesellschaften aber, wie gesagt, ging Stiller stets mit Ehre aus seiner spanischen Anekdote hervor. Wozu hätte er seine Anekdote sonst so oft erzählt? Und jedenfalls ist es Julika heute noch unbegreiflich, wieso Stiller, ihr verschollener Mann, anläßlich jener letzten Begegnung in Davos plötzlich von einer ›Niederlage in Spanien‹ redete. Wieso Niederlage? Dafür bekam Julika keine Erklärung. Hatte er nicht jahrelang auch von Julika verlangt, daß sie sein Verhalten in Spanien vortrefflich fand? Und jetzt war es plötzlich eine Niederlage, eine Sache, die in die Waagschale fällt als Anfang aller Übel, als Fluch, als Unstern, womit Stiller sich auch die Unglücklichkeit ihrer Ehe erklärte. Wieso?
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Ihre letzte Begegnung: Es war November, trostlos genug schon ohne den Besuch von Stiller. Bereits gab es wieder Schnee. Julika in ihrer Jugendstil-Veranda lag eingemummter als je, sogar die Arme unter der Kamelhaardecke, einer Mumie sehr ähnlich. Sie konnte gerade den Kopf noch bewegen, um in den grauen Nebel hinaus zu schauen, nichts zu sehen als das schemenhafte Gerippe der nächsten Lärchen, das sie an ihr Röntgenbild erinnerte, auch so ein kahles Gerippe in Schwaden von grauem Nebel. Und das war nun ihre einzige Aussicht. Der Himmel war wie Blei, und Schwaden von schmutzigem Nebel schlichen den Hängen entlang. Man hatte nicht einmal eine Ahnung, wo am Himmel etwa die Sonne stünde. Die Gipfel der Berge, die vertrauten, schienen sich aufgelöst zu haben wie eine Tablette im Wasserglas, es blieb eine graue und trübe Brühe, nichts weiter. Julika hatte gemeint, nur blöde Menschen könnten sich langweilen, und sie also nicht. Es hatte aber mit Blödsinn gar nichts zu tun, im Gegenteil, vielleicht war es die echteste Art von Not, deren Julika jemals fähig war, diese unsägliche Langeweile, wenn man wirklich nicht weiß, wohin mit der nächsten Stunde, dieser höllische Geschmack von Ewigkeit, wo man nicht über das Zeitliche hinaussieht ... Stiller hockte wortlos auf demGeländer ihrer Veranda, Blick ins Gestöber hinaus. Er war unrasiert und bleich, übernächtig, hatte eine Fahne von Alkohol vor dem Mund, ferner roch er nach Knoblauch selbst aus Entfernung. »Was hast du denn gegessen?« fragte Julika. »Schnecken.« – Stiller fragte mit keinem Wort, wie es ihr ginge. Übrigens kam er nicht aus der Stadt herauf, sondern von Pontresina; Stiller meldete es mit einem Trotz, als wäre es die arme Julika gewesen, die ihn einen Sommer lang zu lauter Ausreden genötigt hätte, und fast mit Schadenfreude. Stiller kam von Pontresina, das hieß: er kam von der andern. Und dann, nach dieser fast hämischen Eröffnung, schwieg er wieder, ohne Julika anzusehen, steckte sich eine Zigarette an und rauchte in das graue Gestöber hinaus; seine Lippen zitterten. Julika wußte nicht warum. »Wie war’s denn in Paris?« fragte Julika. Darauf antwortete er lediglich, daß er in Paris (als wäre es eine Intrige von Julika gewesen) von Julika geträumt hätte. Julika hatte sie immer schon gehaßt, diese Erzählerei von Träumen, die alles heißen konnten, und natürlich hatte sie nicht nach seinen
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