Stiller
wäre, die vier Feinde auf der Fähre abzuschießen. Er hatte acht Minuten lang Zeit. Statt dessen ließ er sie an sein Ufer kommen, trat aus seiner Deckung, schußbereit, sowie die andern ihrerseits das Feuer eröffnen würden, und also bereit, erschossen zu werden. Um sich nicht durch Schüsse zu verraten, schossen auch die Franco-Spanier nicht, sondern entwaffneten den jungen Stiller, warfen sein russisches Gewehr in den Tajo, fesselten ihn mit seinem eigenen Hosenriemen und ließen ihn im Ginster liegen, wo er zwei Tage später, ohnmächtig vor Durst, von seinen Leuten gefunden wurde; zur Rechenschaft gezogen, behauptete er vor dem Kommissär, sein russisches Gewehr wäre nicht losgegangen ... In der Tat, diese kleine Geschichte war sogar das allererste, was Julika aus seinem Mund vernommen hat, und sie erinnert sich sehr wohl an den Abend in seinem Atelier, an jenen folgenreichen Abend nach der Nußknacker-Suite von Tschaikowsky, als eine etwas ausgelassene Bande, Künstler und Zugewandte, die schöne Julika gewaltsam gekapert und ebenso gewaltsam, ein paar Flaschen unter dem Arm, den jungen Stiller in seinem nächtlichen Atelier überrumpelt hatte. Nämlich es war Mitternacht vorbei, jede Wirtschaft im Städtchen geschlossen; das Atelier von Stiller, der damals gerade aus Spanien zurückgekehrt war, hatte noch Licht. Also hinein und hinauf! An jenem Abend sahen Julika und Stiller einander zum erstenmal. Stiller inmitten dieser übermütigen Gesellschaft, die nun sein Atelier füllte, war so still, daß Julika seinen Namen anfänglich für einen Spitznamen hielt. Jemand nötigte ihn dann, seine ›tolle Geschichte von Toledo‹ zum besten zu geben. Stiller wollte durchaus nicht. Es war keine Ziererei; er wollte wirklich nicht, und man sah, es war ihm eine Pein, als dann ein Freund, ein junger Architekt namens Sturzenegger, eigenmächtigerweise zu erzählen begann. Nun mußte Stiller natürlich eingreifen, ergänzen, zu Ende berichten. Jene Geschichte von einem russischen Gewehr, das nicht losgeht, interessierte die junge Balletteuse nicht besonders, denke ich; sie achtete weniger auf die Geschichte als auf den Erzähler, auf diesen jungen Bildhauer, der beim Erzählen immerfort mit seinen Fingern arbeitete, einen Draht hin und her drehte, dann wegwarf, aber auch weiterhin seine Finger nicht ruhen lassen konnte; er tat ihr irgendwie leid. Seine Miene war, indem er erzählte, plötzlich ganz leblos. Es war keine unmittelbare Erinnerung mehr, was der junge Bildhauer von sichgab, sondern eine Anekdote. Ein betretenes und unsicheres Schweigen folgte seiner langen Schilderung. Stiller setzte sein Glas an die Lippen, und niemand sagte ein Wort. Ein lieber, in seiner bleichen Schwammigkeit höchst unkriegerischer Opernsänger stellte die naive Frage: »Und warum haben Sie denn nicht geschossen?« Das interessierte eigentlich auch die andern. Alle Achtung vor der Verwegenheit, einfach aus der Deckung zu treten, alle Achtung auch vor der Pein, als Gefesselter zwei glühende Tage lang an der Sonne zu liegen; aber in der Tat, der Opernsänger sprach ihnen aus dem Herzen. Warum hat Stiller nicht geschossen? Die Auslegung, die Stiller daraufhin gab, wirkte ebenfalls nicht sehr unmittelbar, sondern von Wiederholung abgenutzt, nämlich: Er hasse die Faschisten, sonst wäre er ja nicht als Freiwilliger in den Spanischen Bürgerkrieg gefahren; jedoch in jenem Morgengrauen am Tajo, als Stiller zum erstenmal vor seinem verhaßten Feind stand, erlebte er die vier Faschisten einfach als Menschen, und es war ihm unmöglich, auf Menschen zu schießen, er konnte nicht. Punktum! ... Und wieder folgte Schweigen, wieder pafften die Pfeifen der Künstler und Zugewandten, Schwaden blauen Rauchs hingen im Atelier. Der Opernsänger war von der Antwort befriedigt, höchst befriedigt; er könnte auch nicht schießen, glaubte er. Andere leerten ihr Glas, ohne etwas zu sagen. Und einfach von etwas anderem zu plaudern, von der Nußknacker-Suite beispielsweise, das ging auch nicht. Es breitete sich eine Stille aus, bis sein Freund, der junge Architekt namens Sturzenegger, offenherzig Bewunderung für Stiller ausdrückte; er nannte es einen Sieg des Menschlichen, einen Sieg des konkreten Erlebnisses über alles Ideologische und so fort; er fand allerlei Worte dafür. Niemand widersetzte sich dieser schmeichelhaften Interpretation, und Stiller selbst, sichtlich etwas verlegen, hatte seinerseits nicht das mindeste Bedürfnis, in dieser Geschichte
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