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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Fremde zu gehen, jedoch die Pflicht, vorher um Urlaub vom Staat zu fragen und mich beim Kommando meines Kreises (es gibt keinen Menschen, der nicht in einem Kreis ist) abzumelden, alles wie im Dienstbüchlein beschrieben, ferner daß die soldatische Ausrüstung, die bekanntlich jedem Schweizer anvertraut wird, im Falle eines solchen Urlaubs selbstverständlich nicht irgendwo auf den Dachboden gehöre, sondern abzuliefern sei, damit die Männer des Zeughauses sie vor Motten bewachen, ferner daß ich mich im Auslande sofort beim nächsten schweizerischen Gesandten anzumelden habe, damit ich der Militärsteuer nicht entgehe, beziehungsweise dort wieder abzumelden usw ... .
    »Herr Leutnant«, sage ich, »alle Achtung vor Ihren schweizerischen Einrichtungen! Nur was mich betrifft –«
    Ich komme nicht zu Wort. Sie haben ein einziges Ziel in ihren drei Köpfen: Stiller muß marschbereit sein. Ich komme nicht umhin, auch ein Paar Marschschuhe zu probieren, übrigens eine tadellose Ware. Und nicht nur probieren muß ich sie; der junge Leutnant sagt:
    »Sie müssen sich auch wohl fühlen darin!«
    Es ist nichts zu machen.
    Und dann, ganz zum Schluß, werden sie auch noch wütend. Nämlich ich sollte meine Unterschrift geben, um den Empfang eines Gewehres und der neuen Marschschuhe zu bestätigen. Ordnung muß sein, das versteheich. Ich ließ mir von dem jungen Leutnant, der sich offenkundig auch nach einer bedeutenderen Beschäftigung sehnte, die Füllfeder geben und schrieb auf das Formular: White, James Larkins, New Mexico, USA.
    »White – wieso White?«
    Ich gab die Füllfeder zurück.
    »My name is White.«
    Sie blickten einander vorwurfsvoll an.
    »Sie sind nicht Mitrailleur Stiller?« fragte der junge Leutnant mit meiner verbindlichen Unterschrift in der Hand, halb schon mit einem Kopfschütteln über die Männer vom Zeughaus, die ihrerseits gar nichts dafür konnten. Man hatte ihnen diesen Mann einfach geschickt. Wer? Wieso? Ich versuchte zu schlichten, zu erklären.
    »Es besteht der Verdacht«, sagte ich, »daß ich der vermißte Herr sei, aber dieser Verdacht –«
    Auf Grund eines bloßen Verdachtes, versteht sich, konnte man mich nicht ausrüsten. Der Leutnant erklärte es ihnen, während ich meine Marschschuhe wieder ausziehen mußte, jetzt wo sie mir paßten.
    »Herrgott nochmal«, schimpften die Zeughäuser, »warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt!«
    In Anbetracht ihrer Wut, die sie glücklicherweise an Helm und Gamelle ausließen, verzichtete ich auf Rechtfertigungen. Sie hatten mich eben nie zu Wort kommen lassen. Ihre Wut war verständlich; denn nun durfte ich nichts mehr anrühren, weder das Gewehr noch die Marschschuhe, welche letzteren mir sehr gefallen hätten, und sie mußten den ganzen Tornister selber wieder einpacken. Ich sagte nur: »Sorry!« Aber dem jungen Leutnant war es sehr peinlich; er kam nicht umhin, noch eine Weile mit mir zu plaudern. Amerika interessierte ihn lebhaft. Er entschuldigte sich nochmals; es war ihm gar nicht recht, daß einem Amerikaner in der Schweiz so etwas hatte passieren müssen, und er grüßte mich mit militärischer Ehrerbietung. Ich legte, um nicht zu winken, gleichfalls die Hand an mein Barett, und die zwei vom Gefängniswagen, denen die Höflichkeit des jungen Leutnants nicht entgangen war, empfingen mich wie noch nie, höflich auch sie, als stünde ein Trinkgeld in Aussicht; einer hielt sogar, dieweil der andere mir Feuer gab, die graue Wagentüre mit Gitterfensterchen, und es fehlte nur noch, daß sie mich gefragt hätten, wohin sie mich fahren dürften.
     
     
    Wilfried Stiller, der Bruder, soll sehr traurig sein, daß ich auf seinen brüderlichen Brief nie geantwortet habe. Ich will es tun, sobald ich Muße habe.
     
     
    Heute, Sonntag, besucht mich Knobel in Zivil, in weißem Hemd mit Krawatte, um meinen vierten Mord zu erfahren. Es paßt mir gar nicht. Aber ich komme nicht umhin, etwas zu erzählen.
    »Das war in Texas«, sage ich, »wie ich noch als Cowboy arbeitete.«
    »Cowboy waren Sie auch einmal?«
    »Warum nicht?«
    »Tonnerwetter.«
    Ich schildere ihm also, wie ich eines sommerlichen Morgens in der Prärie, meines Cowboyalltags etwas überdrüssig, weiter ritt als gewöhnlich, weiter als nötig. Ich ritt sozusagen in Gedanken (welcher Art diese Gedanken gewesen sind, interessiert meinen Zuhörer nicht) und ohne ein bestimmtes Ziel. Ich fing sogar zu traben an. Nach etwa fünf Stunden, ich hatte in dieser Zeit kaum jemals zurückgeschaut,

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